Schlafende Richter denken nach

19. Juli 2007
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Eigener Leitsatz:

Nach Ansicht der Richter des Leipziger Bundesverwaltungsgerichts sind Zeichen einer großen Ermüdung, Neigung zum Schlaf und das Kämpfen mit der Müdigkeit noch kein sicherer Beweis dafür, dass der Richter den Vorgängen in der Verhandlung nicht mehr folgen kann. Selbst das Schließen der Augen und das Senken des Kopfes auf die Brust, auch wenn es sich nicht nur auf wenige Minuten beschränkt, beweist noch nicht, dass der Richter schläft. Diese Haltung kann vielmehr auch zur geistigen Entspannung oder zur besonderen Konzentration eingenommen werden. Deshalb kann erst dann davon ausgegangen werden, dass ein Richter schläft oder in anderer Weise „abwesend“ ist, wenn andere sichere Anzeichen hinzukommen, wie beispielsweise tiefes, hörbares und gleichmäßiges Atmen oder gar Schnarchen oder ruckartiges Aufrichten mit Anzeichen von fehlender Orientierung. Hochschrecken allein kann wiederum auch nur darauf schließen lassen, dass es sich um einen Sekundenschlaf gehandelt hat, der die geistige Aufnahme des wesentlichen Inhalts der mündlichen Verhandlung nicht beeinträchtigt.

Bundesverwaltungsgericht

Beschluss vom 19.07.2007

Az.: 5 B 84.06

In der Verwaltungsstreitsache (…)

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 19. Juli 2007 durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts … und die Richter am Bundesverwaltungsgericht … und …

b e s c h l o s s e n:

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 2. Juni 2006 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Berlin zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 500 000 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe:

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Die Kläger rügen zu Recht als Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), dass das Verwaltungsgericht im Sinne von § 138 Nr. 1 VwGO nicht ordnungsmäßig besetzt gewesen ist. Der ehrenamtliche Richter … ist nach dem Ergebnis der hierzu im Beschwerdeverfahren durchgeführten Beweisaufnahme zur Überzeugung des beschließenden Senats in der mündlichen Verhandlung vom 19. Mai 2006 vor dem Verwaltungsgericht eingeschlafen und jedenfalls zeitweilig in einem Zustand gewesen, in dem seine Fähigkeit, den wesentlichen Vorgängen in der mündlichen Verhandlung zu folgen, ausgeschlossen war.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verlangt die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts, dass jeder Richter die zur Ausübung des Richteramts erforderliche Verhandlungsfähigkeit besitzt und damit auch in der Lage ist, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrzunehmen und sie aufzunehmen. Das wiederum setzt voraus, dass der Richter körperlich und geistig im Stande ist, der Verhandlung in allen ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen. Das Gericht und damit jeder einzelne Richter muss seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung gewinnen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Nur wenn der Richter die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung aufgenommen hat, ist er seiner Aufgabe gewachsen, sich sein Urteil selbständig und ohne wesentliche Hilfe der anderen Richter zu bilden und so an einer sachgerechten Entscheidung mitzuwirken. Die damit gebotene Aufmerksamkeit, die ihn befähigt, der Verhandlung zu folgen und sich den Verhandlungsstoff anzueignen, fehlt einem Richter, der in der mündlichen Verhandlung eingeschlafen ist. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Richter wesentlichen Vorgängen nicht mehr folgen konnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 1980 BVerwG 3 C 118.79 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 19; Beschluss vom 15. November 2004 BVerwG 7 B 56.04 juris). Allerdings sind Zeichen einer großen Ermüdung, Neigung zum Schlaf und das Kämpfen mit der Müdigkeit noch kein sicherer Beweis dafür, dass der Richter die Vorgänge in der Verhandlung nicht mehr wahrnehmen konnte. Auch das Schließen der Augen und das Senken des Kopfes auf die Brust, selbst wenn es sich nicht nur auf wenige Minuten beschränkt, beweist noch nicht, dass der Richter schläft. Diese Haltung kann vielmehr auch zur geistigen Entspannung oder zu besonderer Konzentration eingenommen werden. Deshalb kann erst dann davon ausgegangen werden, dass ein Richter schläft oder in anderer Weise „abwesend“ ist, wenn andere sichere Anzeichen hinzukommen, wie beispielsweise tiefes, hörbares und gleichmäßiges Atmen oder gar Schnarchen oder ruckartiges Aufrichten mit Anzeichen von fehlender Orientierung. Hochschrecken allein kann wiederum auch nur darauf schließen lassen, dass es sich um einen Sekundenschlaf gehandelt hat, der die geistige Aufnahme des wesentlichen Inhalts der mündlichen Verhandlung nicht beeinträchtigt (BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1980 BVerwG 6 C 110.79 Buchholz 110 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 20; Beschluss vom 13. Juni 2001 BVerwG 5 B 105.00 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 38).

2. Die Kläger haben eine nicht ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise (zu den Anforderungen s. etwa BVerwG, Beschluss vom 13. Juni 2001 BVerwG 5 B 105.00 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 38 S. 1 f. m.w.N.) dargelegt, die auch in der Sache vorliegt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme durch den beauftragten Richter des Senats in der nichtöffentlichen Sitzung vom 3. Juli 2007 steht mit der erforderlichen Gewissheit fest, dass der ehrenamtliche Richter … wesentlichen Teilen der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht nicht zu folgen vermochte, weil er zeitweise geschlafen hat.

Es spricht schon Vieles dafür, dass diese Feststellung schon für die zweite Phase der mündlichen Verhandlung gelten darf, in der Mitglieder des Gerichts und die Beteiligten des Verfahrens die Höhe der Entschädigung erörterten. Die in dieser Phase angestellten Beobachtungen des Zeugen …, dass dem ehrenamtlichen Richter … während dieser Erörterungen wiederholt die Augen zugefallen seien und er „nach wenigen Sekunden bis ca. einer halben Minute“ wieder hoch geschreckt sei, um der Verhandlung dann wieder für ein bis zwei Minuten zu folgen, sind durch den Zeugen … im Wesentlichen bestätigt worden. Nach dessen Einlassungen ist … in dem besagten Zeitraum mehr als nur kurz „weggenickt“. Dass die Zeuginnen … und … nach ihren Aussagen vor dem beauftragten Richter ein ähnliches Bild vor Augen hatten, sich allerdings nicht in der Lage sahen, dieses Bild zeitlich genau einzuordnen und sie zunächst der Schlussphase der knapp einstündigen mündlichen Verhandlung zugeordnet haben, steht hierzu zwar in einem gewissen Spannungsverhältnis, dem als nicht entscheidungserheblich nicht weiter nachzugehen ist. Denn zur Überzeugung des beschließenden Senats ist es nach den Aussagen des Zeugen …, die auch insoweit durch den Zeugen … bestätigt worden sind, als gewiss anzusehen, dass der ehrenamtliche Richter … jedenfalls während der dritten Phase der mündlichen Verhandlung die für die gerichtliche Entscheidung erheblichen Erörterungen um die Auslegung von § 2 NS-VEntschG und hierbei die Einheitswertfähigkeit von Aktien nicht in hinreichendem Maße hat wahrnehmen können, weil er in dieser Zeit sogar überwiegend geschlafen hat.

Der Senat verkennt dabei nicht, dass der Zeuge … als Prozessbevollmächtigter der Kläger ein zumindest professionelles Interesse an dem Ausgang des Verfahrens hat; allein hieraus folgt indes nicht, dass diese Angaben unzutreffend oder zweckgerichtet überzeichnet sind, wofür es auch sonst an greifbaren Anhaltspunkten fehlt. Der ehrenamtliche Richter … hat als Zeuge insoweit selbst eingeräumt, dass es ihm in dieser Phase wegen seines Unwohlseins (das im weiteren Verlauf des Verhandlungstages dazu geführt hatte, dass der Notarzt herbei gerufen und er in ein Krankenhaus verbracht wurde) schon schwer gefallen sei, der Verhandlung zu folgen. Die in der Beschwerde dargelegten Beobachtungen der Prozessbevollmächtigten der Kläger in dieser Verhandlungsphase vermochte er dabei nicht gänzlich in Frage zu stellen, wenn er in seiner Aussage auch angegeben hat, trotz der sichtbaren Anzeichen für einen Schlaf nach seiner Selbstwahrnehmung nicht bzw. so jedenfalls ausdrücklich für die zweite Phase nur ab und an für 10 bis 15 Sekunden geschlafen zu haben. Es entspricht indes der Lebenserfahrung und bedarf keiner weiteren Aufklärung, dass in solchen Situationen, in denen man „mit dem Schlaf kämpft“, die Selbstwahrnehmung den objektiven Sachverhalt verfehlen kann; dies gilt um so mehr, als in der mündlichen Verhandlung komplexe und dem ehrenamtlichen Richter … neue Rechtsfragen erörtert wurden, bei denen es mangels Vorhersehbarkeit des Erörterungsverlaufs an klaren Anhaltspunkten etwa ein unstimmiger Argumentationsverlauf oder sonstige Zeichen dafür, das „der Faden verloren wurde für eine deutliche Wahrnehmung fehlt, in welchem Umfange einzelne Abschnitte oder Erörterungen nicht wahrgenommen worden sind. Die Selbstwahrnehmung kann in einem solchen Zustand der gesundheitlichen Beeinträchtigung mithin nur eingeschränkter Natur sein.

Demgegenüber belegen die in den Akzentsetzungen divergierenden, im entscheidungserheblichen Kern indes übereinstimmenden, glaubwürdigen Aussagen der Zeugen …, …, … und …, dass die zeitweilige „Abwesenheit“ des ehrenamtlichen Richters … nicht nur als bloßer Sekundenschlaf bewertet werden kann. Die genannten Zeugen konnten allesamt sichere Anzeichen für eine längere „Abwesenheit“ wahrnehmen. So konnte der Zeuge … in Übereinstimmung mit den Darlegungen der Beschwerde wie auch der Aussage des Zeugen … nicht nur wahrnehmen, dass die Augen des Richters … in der letzten Phase der mündlichen Verhandlung ständig geschlossen waren und der Kopf wiederholt auf die Brust sank, sondern auch, dass er nach jedem ruckartigen Aufrichten völlig orientierungslos wirkte. Auch die Zeugin … konnte sich nach Vorhalt daran erinnern, ähnliche Beobachtungen angestellt zu haben, auch wenn sie sich nicht mehr zu entsinnen vermochte, dass … in diesem Verfahrensabschnitt ständig geschlafen habe. Dies deckt sich ferner mit den Einlassungen der Zeugin …, der erinnerlich ist, dass … jedenfalls zum Ende der Verhandlung auf sie wirkte, als wenn er „wegdöste“, wobei sie nicht völlig ausschließen konnte, dass der Zeuge … sogar „völlig weggenickt“ sei. Dass die berufsrichterlichen Mitglieder der Kammer in den von ihnen abgegebenen dienstlichen Erklärungen keine Anhaltspunkte dafür bezeichnet haben, dass der ehrenamtliche Richter … geschlafen habe, steht dem nicht entgegen. Die Zeugen haben übereinstimmend angegeben, dass der ehrenamtliche Richter … jedenfalls keine Schlafgeräusch von sich gegeben habe, so dass der neben ihm sitzende berichterstattende Richter … solche auch nicht hätten bemerken können. Nach den auch insoweit glaubhaften Schilderungen der Zeugen …, … und … zum Ablauf der mündlichen Verhandlung sowie der von den Zeugen bestätigten, der Beschreibung in der dienstlichen Erklärung der Richters … entnommenen Sitzordnung des Gerichts ist auch nachvollziehbar, dass die auf das Verhandlungsgeschehen konzentrierten berufsrichterlichen Mitglieder der Kammer bei dem ehrenamtlichen Richter … beobachtbare und von den Zeugen beschriebene Zeichen längerer geistiger Abwesenheit nicht hätten bemerken müssen; der Umstand, dass sie solche Zeichen ausweislich ihrer dienstlichen Erklärungen nicht bemerkt haben, weist mithin hier nicht darauf, dass der ehrenamtliche Richter … tatsächlich nicht zeitweilig geschlafen hat, und spricht auch sonst nicht gegen die Angaben der Zeugen. Der ehrenamtliche Richter … hat auch mit dem Hinweis auf den „Respekt“ vor den berufsrichterlichen Richtern der Kammer und der Angabe, dass er es nicht als seine Aufgabe verstanden habe, diese auf das Verhalten des ehrenamtlichen Richters … aufmerksam zu machen, eine nachvollziehbare Erklärung dafür gegeben, dass er seine bei der Vernehmung bekundeten Beobachtungen nicht schon in der mündlichen Verhandlung offenbart hat. Auch die Zeuginnen … und … haben hierfür nachvollziehbare Gründe benannt.

Nach alledem ist der beschließende Senat davon überzeugt, dass der ehrenamtliche Richter … zumindest in der letzten Phase der mündlichen Verhandlung zwar nicht ständig geschlafen hat, aber über kontinuierlich wiederkehrende und mehr als nur wenige Sekunde währende Zeiträume geistig abwesend und somit nicht in der Lage war, dem in dieser Phase andauernden Rechtsgespräch zu entscheidungserheblichen Sach- und Rechtsfragen zu folgen. Die aus Phasen des Einschlafens, Schlafens und Hochschreckens aus dem Schlaf bestehenden Intervalle und das dabei zu beobachtende Verhalten des ehrenamtlichen Richters … lassen es überdies als ausgeschlossen erscheinen, dass die hierbei eingenommenen Körperhaltungen lediglich der geistigen Entspannung oder besonderen Konzentration zu dienen bestimmt waren.

Die anwaltlich vertretenen Kläger und Beschwerdeführer haben allerdings das nunmehr geltend gemachte Schlafen des ehrenamtlichen Richters … während der einstündigen Verhandlung weder angesprochen noch beanstandet; das führt indessen nicht zum Rügeverlust (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1980 a.a.O.). Denn nach den glaubhaften Aussagen des Zeugen … waren sich die Prozessbevollmächtigten ihrer später in der Beschwerdeschrift geschilderten Wahrnehmungen nicht hinreichend sicher. Es kann deshalb nicht unterstellt werden, dass die Prozessbevollmächtigten der Kläger ihre Eindrücke unter Verletzung der gebotenen Verfahrensfairness nur deshalb nicht an den Vorsitzenden Richter herangetragen haben, um sich mit diesem treu- und pflichtwidrigen Verhalten einen absoluten Revisionsgrund für den Fall des Unterliegens zu sichern (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juni 2001 BVerwG 5 B 105.00 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 38).

Ob die weiteren Verfahrensrügen der Beschwerde Erfolg haben könnten, bedarf daher keiner Entscheidung.

Im Interesse einer nunmehr beschleunigten Erledigung des Rechtsstreits macht der Senat von seiner Befugnis gemäß § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Verwaltungsgericht zur Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. An dieser Verfahrensweise war der Senat nicht dadurch gehindert, dass der Kläger zugleich auch eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) anstrebt, denn der festgestellte Verfahrensmangel müsste auch bei einer Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache oder wegen Divergenz zur Zurückverweisung der Sache führen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Den Wert des Streitgegenstandes setzt der Senat für das Beschwerdeverfahren gemäß § 47 Abs. 3, Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 52 Abs. 1, Abs. 4 GKG fest.

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