Leinwandkopien sind Reproduktionen
Europäischer Gerichtshof
Urteil vom 22.01.2015
Az.: C-419/13
In der Rechtssache C‑419/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidung vom 12. Juli 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juli 2013, in dem Verfahren
Art & Allposters International BV
gegen
Stichting Pictoright
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
folgendes Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. L 167, S. 10).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Art & Allposters International BV (im Folgenden: Allposters) und der Stichting Pictoright (im Folgenden: Pictoright) wegen einer Verletzung der von Pictoright verwerteten Urheberrechte, die Allposters durch die Übertragung von Abbildungen geschützter Werke von Papierpostern auf eine Leinwand und den Verkauf der Bilder auf diesem neuen Träger begangen haben soll.
Rechtlicher Rahmen:
Internationales Recht
WIPO-Urheberrechtsvertrag
Die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) nahm am 20. Dezember 1996 in Genf den WIPO-Urheberrechtsvertrag an. Dieser Vertrag wurde im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2000/278/EG des Rates vom 16. März 2000 (ABl. L 89, S. 6) genehmigt.
Nach Art. 1 Abs. 4 des WIPO-Urheberrechtsvertrags müssen die Vertragsparteien den Art. 1 bis 21 und dem Anhang der am 9. September 1886 in Bern unterzeichneten Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst (Pariser Fassung vom 24. Juli 1971) in ihrer am 28. September 1979 geänderten Fassung (im Folgenden: Berner Übereinkunft) nachkommen.
Art. 6 („Verbreitungsrecht“) des WIPO-Urheberrechtsvertrags bestimmt:
„(1) Die Urheber von Werken der Literatur und Kunst haben das ausschließliche Recht zu erlauben, dass das Original und Vervielfältigungsstücke ihrer Werke durch Verkauf oder sonstige Eigentumsübertragung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
(2) Dieser Vertrag berührt nicht die Freiheit der Vertragsparteien, gegebenenfalls zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen sich das Recht nach Absatz 1 nach dem ersten mit Erlaubnis des Urhebers erfolgten Verkauf des Originals oder eines Vervielfältigungsstücks oder der ersten sonstigen Eigentumsübertragung erschöpft.“
Berner Übereinkunft
Art. 12 („Recht auf Bearbeitungen, Arrangements und andere Umarbeitungen“) der Berner Übereinkunft bestimmt:
„Die Urheber von Werken der Literatur oder Kunst genießen das ausschließliche Recht, Bearbeitungen, Arrangements und andere Umarbeitungen ihrer Werke zu erlauben.“
Unionsrecht
In den Erwägungsgründen 9, 10, 28 und 31 der Richtlinie 2001/29 heißt es:
„(9) Jede Harmonisierung des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte muss von einem hohen Schutzniveau ausgehen, da diese Rechte für das geistige Schaffen wesentlich sind …
(10) Wenn Urheber und ausübende Künstler weiter schöpferisch und künstlerisch tätig sein sollen, müssen sie für die Nutzung ihrer Werke eine angemessene Vergütung erhalten …
…
(28) Der unter diese Richtlinie fallende Urheberrechtsschutz schließt auch das ausschließliche Recht ein, die Verbreitung eines in einem Gegenstand verkörperten Werks zu kontrollieren. Mit dem Erstverkauf des Originals oder dem Erstverkauf von Vervielfältigungsstücken des Originals in der Gemeinschaft durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung erschöpft sich das Recht, den Wiederverkauf dieses Gegenstands innerhalb der Gemeinschaft zu kontrollieren. Dies gilt jedoch nicht, wenn das Original oder Vervielfältigungsstücke des Originals durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung außerhalb der Gemeinschaft verkauft werden …
…
(31) Es muss ein angemessener Rechts- und Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Kategorien von Rechtsinhabern sowie zwischen den verschiedenen Kategorien von Rechtsinhabern und Nutzern von Schutzgegenständen gesichert werden. Die von den Mitgliedstaaten festgelegten Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf Schutzrechte müssen vor dem Hintergrund der neuen elektronischen Medien neu bewertet werden. Bestehende Unterschiede bei den Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf bestimmte zustimmungsbedürftige Handlungen haben unmittelbare negative Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts im Bereich des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte. Diese Unterschiede könnten sich mit der Weiterentwicklung der grenzüberschreitenden Verwertung von Werken und den zunehmenden grenzüberschreitenden Tätigkeiten durchaus noch deutlicher ausprägen. Um ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, sollten diese Ausnahmen und Beschränkungen einheitlicher definiert werden. Dabei sollte sich der Grad ihrer Harmonisierung nach ihrer Wirkung auf die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts bestimmen.“
Art. 2 („Vervielfältigungsrecht“) der Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten sehen für folgende Personen das ausschließliche Recht vor, die unmittelbare oder mittelbare, vorübergehende oder dauerhafte Vervielfältigung auf jede Art und Weise und in jeder Form ganz oder teilweise zu erlauben oder zu verbieten:
a) für die Urheber in Bezug auf ihre Werke, …“
Art. 4 („Verbreitungsrecht“) der Richtlinie lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern in Bezug auf das Original ihrer Werke oder auf Vervielfältigungsstücke davon das ausschließliche Recht zusteht, die Verbreitung an die Öffentlichkeit in beliebiger Form durch Verkauf oder auf sonstige Weise zu erlauben oder zu verbieten.
(2) Das Verbreitungsrecht erschöpft sich in der Gemeinschaft in Bezug auf das Original oder auf Vervielfältigungsstücke eines Werks nur, wenn der Erstverkauf dieses Gegenstands oder eine andere erstmalige Eigentumsübertragung in der Gemeinschaft durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung erfolgt.“
Niederländisches Recht
Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 wurde durch die Art. 1 und 12 Abs. 1 Nr. 1° der Auteurswet (Urhebergesetz, im Folgenden: Aw) in nationales Recht umgesetzt.
Art. 1 Aw bestimmt:
„Das Urheberrecht ist vorbehaltlich der gesetzlichen Beschränkungen das ausschließliche Recht des Urhebers eines Werks der Literatur, Wissenschaft oder Kunst oder seines Rechtsnachfolgers, dieses Werk zu veröffentlichen und zu vervielfältigen.“
In Art. 12 Abs. 1 Aw heißt es:
„Unter der Veröffentlichung eines Werks der Literatur, der Wissenschaft oder der Kunst ist u. a. zu verstehen:
1° die Veröffentlichung einer vollständigen oder teilweisen Vervielfältigung des Werks …“
Art. 12b Aw, der zur Umsetzung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 in nationales Recht dient, lautet:
„Ist ein Exemplar eines Werks der Literatur, der Wissenschaft oder der Kunst von seinem Urheber oder dessen Rechtsnachfolger oder mit ihrer Zustimmung durch Eigentumsübertragung erstmalig in einem der Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder in einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum [EWR] in Verkehr gebracht worden, stellt die anderweitige Weiterverbreitung dieses Exemplars – mit Ausnahme der Vermietung und des Verleihs – keine Urheberrechtsverletzung dar.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Pictoright ist eine niederländische Verwertungsgesellschaft von Urheberrechten, die die Interessen der ihr angeschlossenen Urheberrechtsinhaber wahrnimmt. Aufgrund von Vereinbarungen mit ausländischen Schwestergesellschaften nimmt sie auch die Interessen ausländischer Künstler und ihrer Erben in den Niederlanden wahr. Pictoright ist berechtigt, die Urheberrechte der Rechtsinhaber in deren Namen zu verwerten, insbesondere durch Erteilung von Lizenzen und durch die Verfolgung von Verletzungen dieser Rechte.
Allposters bietet über ihre Websites Poster und andere Reproduktionen von Werken berühmter Maler an, deren Urheberrechte Pictoright verwertet. Allposters bietet ihren Kunden u. a. Reproduktionen in Form von Postern, gerahmten Postern, Postern auf Holz oder auf Leinwand an. Im letztgenannten Fall wird zunächst auf einem Papierposter des gewählten Werks eine Lage Kunststoff (Laminat) aufgebracht. Dann wird die Abbildung auf dem Poster unter Einsatz eines chemischen Verfahrens vom Papier auf die Leinwand übertragen. Schließlich wird die Leinwand auf einen Holzrahmen gespannt. Nach diesem Vorgang ist die Abbildung des Werks vom Papierträger verschwunden. Allposters bezeichnet dieses Verfahren und sein Ergebnis als „Leinwandtransfer“.
Pictoright ging dagegen vor, dass Reproduktionen urheberrechtlich geschützter Werke in Form von Leinwandtransfers ohne Zustimmung der ihr angeschlossenen Urheberrechtsinhaber verkauft werden, und forderte Allposters unter Androhung gerichtlicher Schritte auf, die Verkäufe einzustellen.
Da Allposters dieser Aufforderung nicht nachkam, erhob Pictoright bei der Rechtbank Roermond (erstinstanzliches Gericht Roermond) gegen sie Klage auf Unterlassung jeder unmittelbaren oder mittelbaren Verletzung der Urheberrechte und Urheberpersönlichkeitsrechte der Rechtsinhaber.
Mit Urteil vom 22. September 2010 wies die Rechtbank Roermond die Klage ab. Pictoright legte dagegen beim Gerechtshof te ʼs-Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch) Berufung ein. Dieser hob das Urteil der Rechtbank mit Urteil vom 3. Januar 2012 auf und gab den Anträgen von Pictoright größtenteils statt.
Nach Ansicht des Gerechtshof stellt der Verkauf der Reproduktion eines Kunstwerks in Form eines Posters oder einer Leinwand eine Veröffentlichung im Sinne des niederländischen Rechts dar. Aus dem Urteil des Hoge Raad der Nederlanden vom 19. Januar 1979 (NJ 1979/412, Poortvliet) folge nämlich, dass eine Neuveröffentlichung im Sinne von Art. 12 Aw vorliege, wenn das vom Rechtsinhaber in Verkehr gebrachte Exemplar eines Werks in anderer Form öffentlich verbreitet werde, sofern derjenige, der diese neue Form des Exemplars in Verkehr bringe, über neue Verwertungsmöglichkeiten verfüge (im Folgenden: Poortvliet-Rechtsprechung). Das mit Zustimmung des Rechtsinhabers in Verkehr gebrachte Papierposter habe eine grundlegende Änderung erfahren, die Allposters neue Verwertungsmöglichkeiten verschaffe, da sie es ihr ermögliche, höhere Preise zu verlangen und eine andere Zielgruppe anzusprechen. Daher stelle das Inverkehrbringen von Leinwandtransfers eine nach nationalem Recht verbotene Veröffentlichung dar, so dass die Berufung von Allposters auf die Erschöpfung des Verbreitungsrechts nicht durchgreife.
Allposters hat daraufhin beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde eingelegt. Sie hält insbesondere die Poortvliet-Rechtsprechung für nicht einschlägig und rügt die Auslegung der Begriffe „Erschöpfung“ und „Veröffentlichung“, die auf Unionsebene harmonisiert worden seien. Die Erschöpfung des Verbreitungsrechts im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 trete bei Verbreitung eines in einem Gegenstand verkörperten Werks ein, wenn es durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung in Verkehr gebracht worden sei. Eine etwaige spätere Veränderung dieses Gegenstands wirke sich nicht auf die Erschöpfung des Verbreitungsrechts aus. Pictoright führt hingegen aus, dass die Poortvliet-Rechtsprechung mangels einer Harmonisierung des Bearbeitungsrechts im Urheberrecht der Union ihre Gültigkeit behalte oder zumindest mit dem Unionsrecht vereinbar sei.
Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Regelt Art. 4 der Richtlinie 2001/29 die Antwort auf die Frage, ob das Verbreitungsrecht des Urheberrechtsinhabers auf die Reproduktion eines urheberrechtlich geschützten Werks, das durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung im EWR veräußert und geliefert worden ist, angewandt werden kann, wenn diese Reproduktion anschließend eine Änderung hinsichtlich der Form erfahren hat und in dieser Form erneut in Verkehr gebracht wird?
2. a) Sofern Frage 1 zu bejahen ist: Ist der Umstand, dass eine Änderung im Sinne von Frage 1 vorliegt, in diesem Fall für die Antwort auf die Frage von Belang, ob eine Erschöpfung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 verhindert oder durchbrochen wird?
b) Sofern Frage 2 Buchst. a bejaht wird: Welche Maßstäbe sind in diesem Fall anzulegen, um von einer Änderung hinsichtlich der Form der Reproduktion sprechen zu können, die eine Erschöpfung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 hindert oder durchbricht?
c) Lassen diese Maßstäbe Raum für den im nationalen niederländischen Recht entwickelten Maßstab, wonach von Erschöpfung allein deshalb keine Rede mehr sein kann, weil der Wiederverkäufer den Reproduktionen eine andere Form gegeben und sie in dieser Form an die Öffentlichkeit verbreitet hat (Urteil des Hoge Raad vom 19. Januar 1979, NJ 1979/412, Poortvliet)?
Zu den Vorlagefragen:
Die Zuständigkeit des Gerichtshofs im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens beschränkt sich auf die Prüfung der Bestimmungen des Unionsrechts; er ist nicht berufen, über die Vereinbarkeit des nationalen Rechts, einschließlich der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten, mit dem Unionsrecht zu entscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteile Triveneta Zuccheri u. a./Kommission, C‑347/87, EU:C:1990:129, Rn. 16, und Schwarz, C‑321/07, EU:C:2009:104, Rn. 48).
Unter diesen Umständen sind die Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, so zu verstehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 aufgestellte Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts anwendbar ist, wenn das Trägermedium einer in der Union mit Zustimmung des Urheberrechtsinhabers in Verkehr gebrachten Reproduktion eines geschützten Werks eine Änderung, etwa durch Übertragung der Reproduktion von einem Papierposter auf eine Leinwand, erfahren hat und in ihrer neuen Form erneut in Verkehr gebracht wurde.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Pictoright die Auffassung vertritt, wegen der im Laufe des Verfahrens der Übertragung der Reproduktionen geschützter Werke auf die Leinwände eintretenden grundlegenden Änderungen der Poster seien die Leinwände Bearbeitungen dieser Werke, auf die das Verbreitungsrecht nicht anwendbar sei. Sie macht geltend, das urheberrechtliche Bearbeitungsrecht sei durch das Unionsrecht nicht harmonisiert worden, sondern in Art. 12 der Berner Übereinkunft geregelt.
Daher ist zu prüfen, ob die Umstände des Ausgangsverfahrens in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/29 fallen.
In Bezug auf das Bearbeitungsrecht trifft es zwar zu, dass Art. 12 der Berner Übereinkunft den Urhebern von Werken der Literatur oder Kunst das ausschließliche Recht verleiht, Bearbeitungen, Arrangements und andere Umarbeitungen ihrer Werke zu erlauben, und dass die Richtlinie keine entsprechende Bestimmung enthält.
Ohne dass es einer Auslegung des Begriffs „Bearbeitung“ im Sinne von Art. 12 der Berner Übereinkunft bedarf, genügt jedoch die Feststellung, dass sowohl das Papierposter als auch die Übertragung auf eine Leinwand die Abbildung eines geschützten Kunstwerks enthalten und daher als in der Union in Verkehr gebrachte Vervielfältigungsstücke eines geschützten Werks in den Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 fallen. Nach dieser Bestimmung steht den Urhebern aber in Bezug auf das Original ihrer Werke oder auf Vervielfältigungsstücke davon das ausschließliche Recht zu, die Verbreitung an die Öffentlichkeit in beliebiger Form durch Verkauf oder auf sonstige Weise zu erlauben oder zu verbieten.
Daher ist festzustellen, dass die Umstände des Ausgangsverfahrens in den Anwendungsbereich von Art. 4 der Richtlinie fallen.
Zu den Voraussetzungen für die Anwendung der Erschöpfungsregel ergibt sich aus Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie, dass sich das Verbreitungsrecht in Bezug auf das Original oder auf Vervielfältigungsstücke eines Werks nur erschöpft, wenn der Erstverkauf dieses Gegenstands oder eine andere erstmalige Eigentumsübertragung in der Union durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung erfolgt.
Zudem belässt Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit, eine andere als die in dieser Bestimmung enthaltene Erschöpfungsregel vorzusehen, da sich, wie aus dem 31. Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, unterschiedliche nationale Rechtsvorschriften über die Erschöpfung des Verbreitungsrechts unmittelbar auf das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts auswirken können (vgl. in diesem Sinne Urteil Laserdisken, C‑479/04, EU:C:2006:549, Rn. 24 und 56).
Der Gerichtshof hat, gestützt auf den Wortlaut von Art. 4 Abs. 2, entschieden, dass die Erschöpfung des Verbreitungsrechts von zwei Voraussetzungen abhängt, nämlich zum einen davon, dass das Original oder Vervielfältigungsstücke eines Werks vom Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung in Verkehr gebracht wurden, und zum anderen davon, dass dies in der Union geschah (vgl. Urteil Laserdisken, EU:C:2006:549, Rn. 21).
Im Ausgangsverfahren steht fest, dass die Poster der Werke berühmter Maler, auf die sich die Urheberrechte der von Pictoright vertretenen Rechtsinhaber beziehen, mit deren Zustimmung im EWR in Verkehr gebracht wurden.
Die Parteien des Ausgangsverfahrens streiten jedoch zum einen darüber, ob sich die Erschöpfung des Verbreitungsrechts auf den Gegenstand erstreckt, der ein Werk oder dessen Vervielfältigungsstück verkörpert, oder auf die geistige Schöpfung des Urhebers, und zum anderen darüber, ob sich eine Änderung des Trägers wie die von Allposters vorgenommene auf die Erschöpfung des ausschließlichen Verbreitungsrechts auswirkt.
Was erstens den Gegenstand des Verbreitungsrechts betrifft, stellt Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 auf den Erstverkauf oder eine andere erstmalige Eigentumsübertragung „dieses Gegenstands“ ab.
Außerdem heißt es im 28. Erwägungsgrund der Richtlinie: „Der unter diese Richtlinie fallende Urheberrechtsschutz schließt auch das ausschließliche Recht ein, die Verbreitung eines in einem Gegenstand verkörperten Werks zu kontrollieren.“ Weiter heißt es dort: „Mit dem Erstverkauf des Originals oder dem Erstverkauf von Vervielfältigungsstücken des Originals in der [Union] durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung erschöpft sich das Recht, den Wiederverkauf dieses Gegenstands innerhalb der [Union] zu kontrollieren.“
Überdies können nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Werke der Literatur und Kunst entweder durch öffentliche Aufführung oder durch Vervielfältigung und Inverkehrbringen der hergestellten Bild- und Tonträger gewerblich verwertet werden (Urteil FDV, C‑61/97, EU:C:1998:422, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der Unionsgesetzgeber durch die Verwendung der Begriffe „Gegenstand“ und „dieser Gegenstand“ den Urhebern die Kontrolle über das erstmalige Inverkehrbringen jedes ihre geistige Schöpfung verkörpernden Gegenstands auf dem Markt der Union geben wollte.
Wie die Europäische Kommission zutreffend ausführt, wird diese Schlussfolgerung durch das internationale Recht und insbesondere durch den WIPO-Urheberrechtsvertrag bestätigt, in dessen Licht die Richtlinie 2001/29 so weit wie möglich auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Laserdisken, EU:C:2006:549, Rn. 39 und 40, Peek & Cloppenburg, C‑456/06, EU:C:2008:232, Rn. 30 und 31, Football Association Premier League u. a., C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 189, und Donner, C‑5/11, EU:C:2012:370, Rn. 23).
Nach Art. 6 Abs. 1 des WIPO-Urheberrechtsvertrags haben nämlich die Urheber von Werken der Literatur und Kunst das ausschließliche Recht, zu erlauben, dass das Original und Vervielfältigungsstücke ihrer Werke durch Verkauf oder sonstige Eigentumsübertragung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Bedeutung des Begriffs „Vervielfältigungsstück“ wurde von den Vertragsparteien in einer auf der Diplomatischen Konferenz vom 20. Dezember 1996, in deren Rahmen dieser Vertrag angenommen wurde, verabschiedeten Vereinbarten Erklärung zu den Art. 6 und 7 des Vertrags erläutert. Sie lautet: „Die in diesen Artikeln im Zusammenhang mit dem Verbreitungs- und Vermietrecht verwendeten Ausdrücke ‚Vervielfältigungsstücke‘ und ‚Original und Vervielfältigungsstücke‘ beziehen sich ausschließlich auf Vervielfältigungsstücke, die als körperliche Gegenstände in Verkehr gebracht werden können.“
Daher ist festzustellen, dass die Erschöpfung des Verbreitungsrechts auf den ein geschütztes Werk oder dessen Vervielfältigungsstück verkörpernden Gegenstand Anwendung findet, wenn er mit Zustimmung des Urheberrechtsinhabers in Verkehr gebracht wurde.
Zweitens ist zu prüfen, ob sich der Umstand, dass der mit Zustimmung des Urheberrechtsinhabers in Verkehr gebrachte Gegenstand anschließend Änderungen seines Trägermaterials erfahren hat, auf die Erschöpfung des Verbreitungsrechts im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 auswirkt.
Im Ausgangsverfahren besteht die Änderung darin, dass die Abbildung eines Kunstwerks auf einem Papierposter mittels des in Rn. 15 des vorliegenden Urteils beschriebenen Verfahrens auf eine Leinwand übertragen wurde, so dass der Träger aus Papier durch eine Leinwand ersetzt wurde. Nach den Angaben der Parteien des Ausgangsverfahrens führt diese Technik zu einer langlebigeren Reproduktion, einer Verbesserung der Qualität des Bildes im Vergleich zum Poster und einer stärkeren Annäherung des Ergebnisses an das Original des Werks.
Insoweit macht die französische Regierung zu Recht geltend, dass eine Ersetzung des Trägers wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zur Schaffung eines neuen die Abbildung des geschützten Werks verkörpernden Gegenstands führt, während das Poster als solches nicht mehr existiert. Eine solche Änderung des Vervielfältigungsstücks des geschützten Werks, die das Ergebnis stärker dem Original annähert, kann der Sache nach eine neue Reproduktion dieses Werks im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29 darstellen, die vom ausschließlichen Recht des Urhebers erfasst wird und seiner Erlaubnis bedarf.
Allposters macht jedoch geltend, die Übertragung auf eine Leinwand könne nicht als Reproduktion bezeichnet werden, da die Zahl der Vervielfältigungsstücke des geschützten Werks aufgrund der Übertragung der Abbildung und ihres Verschwindens vom Papierposter nicht zunehme. Die das Werk wiedergebende Tinte werde nicht verändert, und das Werk selbst bleibe völlig unberührt.
Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Der Umstand, dass die Tinte beim Übertragungsvorgang erhalten bleibt, ändert nämlich nichts an der Feststellung, dass der Träger der Abbildung geändert wurde. Entscheidend ist vielmehr, ob der geänderte Gegenstand als solcher insgesamt gesehen materiell der Gegenstand ist, der mit Zustimmung des Rechtsinhabers in Verkehr gebracht wurde. Das scheint im Ausgangsverfahren nicht der Fall zu sein.
Folglich erstreckt sich die Zustimmung des Urheberrechtsinhabers nicht auf die Verbreitung eines sein Werk verkörpernden Gegenstands, wenn dieser Gegenstand nach seinem erstmaligen Inverkehrbringen in einer Weise verändert wurde, dass er eine neue Reproduktion des Werks darstellt. In einem solchen Fall erschöpft sich das Recht zur Verbreitung des Gegenstands erst, wenn der Erstverkauf dieses neuen Gegenstands oder die erstmalige Übertragung des Eigentums an ihm mit Zustimmung des Rechtsinhabers erfolgt ist.
Diese Auslegung wird durch das Hauptziel der Richtlinie 2001/29 gestützt, das nach ihren Erwägungsgründen 9 und 10 darin besteht, ein hohes Schutzniveau u. a. für die Urheber zu schaffen und ihnen damit die Möglichkeit zu geben, für die Nutzung ihrer Werke eine angemessene Vergütung zu erhalten (vgl. Urteile SGAE, C‑306/05, EU:C:2006:764, Rn. 36, Peek & Cloppenburg, EU:C:2008:232, Rn. 37, sowie Football Association Premier League u. a., EU:C:2011:631, Rn. 186).
Aus dem Vorbringen der Parteien des Ausgangsverfahrens vor dem Gerichtshof ergibt sich aber, dass die Urheberrechtsinhaber der Verbreitung der Leinwandtransfers zumindest nicht ausdrücklich zugestimmt haben. Daher nähme ihnen die Anwendung der Erschöpfungsregel auf das Verbreitungsrecht die Möglichkeit, die Verbreitung dieser Gegenstände zu verbieten oder, im Fall der Verbreitung, für die gewerbliche Verwertung ihrer Werke eine angemessene Vergütung zu verlangen. Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine solche Vergütung, um angemessen zu sein, in vernünftigem Verhältnis zum wirtschaftlichen Wert der Verwertung des geschützten Gegenstands stehen muss (vgl. entsprechend Urteil Football Association Premier League u. a., EU:C:2011:631, Rn. 107 bis 109). In Bezug auf die Leinwandtransfers ist zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens unstreitig, dass ihr wirtschaftlicher Wert den der Poster erheblich übersteigt.
Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 dahin auszulegen ist, dass die Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts nicht anwendbar ist, wenn das Trägermedium einer in der Union mit Zustimmung des Urheberrechtsinhabers in Verkehr gebrachten Reproduktion eines geschützten Werks, etwa durch Übertragung der Reproduktion von einem Papierposter auf eine Leinwand, ersetzt und sie in ihrer neuen Form erneut in Verkehr gebracht wurde.
Kosten:
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft ist dahin auszulegen, dass die Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts nicht anwendbar ist, wenn das Trägermedium einer in der Europäischen Union mit Zustimmung des Urheberrechtsinhabers in Verkehr gebrachten Reproduktion eines geschützten Werks, etwa durch Übertragung der Reproduktion von einem Papierposter auf eine Leinwand, ersetzt und sie in ihrer neuen Form erneut in Verkehr gebracht wurde.