Werke der angewandten Kunst genießen einheitlichen Schutz in der EU

28. Oktober 2024
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Urteil des EuGH vom 24.10.2024, Az.: C-227/23

Auf die Vorlagefrage des Obersten Gerichtshofs der Niederlande entschied der EuGH, dass Werken aus Drittstaaten, in diesem Fall der USA, in der EU der gleiche Schutz zukommen muss wie jenen aus Mitgliedsstaaten. Konkret ging es um den „Dining Sidechair Wood“, welcher von den Amerikanern Charles und Ray Eames entworfen wurde. Eine Anwendung der sog. „Klausel der materiellen Gegenseitigkeit“ aus der Berner Übereinkunft ist laut EuGH nicht möglich, da die EU-Richtlinie 2001/29 einen einheitlichen urheberrechtlichen Schutz in der EU für alle Werke, unabhängig vom Ursprungsland, vorsieht. Der Zielsetzung dieser Richtlinie würde mit der Klausel entgegengewirkt.

Europäischer Gerichtshof

Urteil vom 24.10.2024

Az.: C-227/23

 

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges und gewerbliches Eigentum – Urheberrecht – Richtlinie 2001/29/EG – Art. 2 bis 4 – Ausschließliche Rechte – Urheberrechtlicher Schutz von Gegenständen der angewandten Kunst, deren Ursprungsland kein Mitgliedstaat ist – Berner Übereinkunft – Art. 2 Abs. 7 – Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit – Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten – Anwendung des Kriteriums der materiellen Gegenseitigkeit durch die Mitgliedstaaten – Art. 351 Abs. 1 AEUV “

 

In der Rechtssache C‑227/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 31. März 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 11. April 2023, in dem Verfahren

Kwantum Nederland BV,

Kwantum België BV

gegen

Vitra Collections AG

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs T. von Danwitz in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, des Richters A. Arabadjiev und der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin),

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. März 2024,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Kwantum Nederland BV und der Kwantum België BV, vertreten durch C. Garnitsch, M. R. Rijks und M. van Gerwen, Advocaten,

–        der Vitra Collections AG, vertreten durch S. A. Klos und A. Ringnalda, Advocaten, sowie Rechtsanwalt M. A. Ritscher,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch E. M. M. Besselink und M. K. Bulterman als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin und A. Van Baelen als Bevollmächtigte im Beistand von A. Strowel, Avocat,

–        der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard und E. Timmermans als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Afonso, O. Glinicka, P.‑J. Loewenthal und J. Samnadda als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. September 2024

folgendes

Urteil

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2 bis 4 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10), von Art. 17 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im Licht von Art. 2 Abs. 7 der am 9. September 1886 in Bern unterzeichneten Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst (Pariser Fassung vom 24. Juli 1971) in der Fassung der Änderung vom 28. September 1979 (im Folgenden: Berner Übereinkunft) sowie von Art. 351 Abs. 1 AEUV.

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Vitra Collections AG (im Folgenden: Vitra), einer Gesellschaft schweizerischen Rechts, auf der einen Seite und der Kwantum Nederland BV und der Kwantum België BV (im Folgenden zusammen: Kwantum), die in den Niederlanden und in Belgien eine Kette von Geschäften für Inneneinrichtungsgegenstände, darunter Möbel, betreiben, auf der anderen Seite, weil letztere Gesellschaften einen Stuhl vermarkteten, der nach Ansicht von Vitra deren Urheberrechte verletzt.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

 Berner Übereinkunft

Art. 2 Abs. 7 der Berner Übereinkunft bestimmt:

„Unbeschadet des Artikels 7 Absatz 4 [dieser Übereinkunft] bleibt der Gesetzgebung der Verbandsländer vorbehalten, den Anwendungsbereich der Gesetze, die die Werke der angewandten Kunst und die gewerblichen Muster und Modelle betreffen, sowie die Voraussetzungen des Schutzes dieser Werke, Muster und Modelle festzulegen. Für Werke, die im Ursprungsland nur als Muster und Modelle geschützt werden, kann in einem anderen Verbandsland nur der besondere Schutz beansprucht werden, der in diesem Land den Mustern und Modellen gewährt wird; wird jedoch in diesem Land kein solcher besonderer Schutz gewährt, so sind diese Werke als Werke der Kunst zu schützen.“

Art. 5 Abs. 1 der Übereinkunft sieht vor:

„Die Urheber genießen für die Werke, für die sie durch diese Übereinkunft geschützt sind, in allen Verbandsländern mit Ausnahme des Ursprungslandes des Werks die Rechte, die die einschlägigen Gesetze den inländischen Urhebern gegenwärtig gewähren oder in Zukunft gewähren werden, sowie die in dieser Übereinkunft besonders gewährten Rechte.“

In Art. 7 Abs. 8 der Übereinkunft heißt es:

„In allen Fällen richtet sich die Dauer nach dem Gesetz des Landes, in dem der Schutz beansprucht wird; jedoch überschreitet sie, sofern die Rechtsvorschriften dieses Landes nichts anderes bestimmen, nicht die im Ursprungsland des Werkes festgesetzte Dauer.“

Art. 14ter Abs. 2 der Übereinkunft bestimmt:

„Der in Absatz 1 vorgesehene Schutz kann in jedem Verbandsland nur beansprucht werden, sofern die Heimatgesetzgebung des Urhebers diesen Schutz anerkennt und soweit es die Rechtsvorschriften des Landes zulassen, in dem dieser Schutz beansprucht wird.“

Art. 19 der Berner Übereinkunft sieht vor:

„Die Bestimmungen dieser Übereinkunft hindern nicht daran, die Anwendung von weitergehenden Bestimmungen zu beanspruchen, die durch die Gesetzgebung eines Verbandslandes etwa erlassen werden.“

 TRIPS-Übereinkommen

Art. 3 („Inländerbehandlung“) des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (im Folgenden: TRIPS-Übereinkommen), das den Anhang 1 C des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) bildet, das am 15. April 1994 in Marrakesch unterzeichnet und mit dem Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986–1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche (ABl. 1994, L 336, S. 1) genehmigt wurde, bestimmt:

„(1)      Die Mitglieder gewähren den Angehörigen der anderen Mitglieder eine Behandlung, die nicht weniger günstig ist als die, die sie ihren eigenen Angehörigen in Bezug auf den Schutz des geistigen Eigentums gewähren, vorbehaltlich der jeweils bereits in der Pariser Verbandsübereinkunft (1967), der Berner Übereinkunft (1971), dem Rom-Abkommen oder dem Vertrag über den Schutz des geistigen Eigentums im Hinblick auf integrierte Schaltkreise vorgesehenen Ausnahmen. In Bezug auf ausübende Künstler, Hersteller von Tonträgern und Sendeunternehmen gilt diese Verpflichtung nur in Bezug auf die in diesem Abkommen vorgesehenen Rechte. Ein Mitglied, das von den in Artikel 6 der Berner Übereinkunft (1971) oder in Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe b) des Rom-Abkommens vorgesehenen Möglichkeiten Gebrauch macht, hat eine Notifikation gemäß den genannten Bestimmungen an den Rat für TRIPS vorzunehmen.

(2)      Die Mitglieder dürfen in Bezug auf Gerichts- und Verwaltungsverfahren, einschließlich der Bestimmung einer Anschrift für die Zustellung oder der Ernennung eines Vertreters innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitglieds, von den in Absatz 1 vorgesehenen Ausnahmen nur Gebrauch machen, wenn diese Ausnahmen notwendig sind, um die Einhaltung von Gesetzen und sonstigen Vorschriften sicherzustellen, die mit den Bestimmungen dieses Übereinkommens nicht unvereinbar sind, und wenn diese Praktiken nicht in einer Weise angewendet werden, die eine verschleierte Handelsbeschränkung bilden würde.“

Art. 9 („Verhältnis zur Berner Übereinkunft“) Abs. 1 des TRIPS-Übereinkommens sieht vor:

„Die Mitglieder befolgen die Artikel 1 bis 21 der Berner Übereinkunft (1971) und den Anhang dazu. Die Mitglieder haben jedoch aufgrund dieses Übereinkommens keine Rechte oder Pflichten in Bezug auf die in Artikel 6bis der Übereinkunft gewährten oder die daraus abgeleiteten Rechte.“

 WCT

Der am 20. Dezember 1996 in Genf angenommene Urheberrechtsvertrag der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) (im Folgenden: WCT) wurde mit dem Beschluss 2000/278/EG des Rates vom 16. März 2000 (ABl. 2000, L 89, S. 6) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt.

Art. 1 („Verhältnis zur Berner Übereinkunft“) Abs. 4 des WCT sieht vor:

„Die Vertragsparteien kommen den Artikeln 1 bis 21 und dem Anhang der Berner Übereinkunft nach.“

 Unionsrecht

 Richtlinie 2001/29

12      In den Erwägungsgründen 6, 9 und 15 der Richtlinie 2001/29 heißt es:

„(6)      Ohne Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene könnten Gesetzgebungsinitiativen auf einzelstaatlicher Ebene, die in einigen Mitgliedstaaten bereits in die Wege geleitet worden sind, um den technischen Herausforderungen zu begegnen, erhebliche Unterschiede im Rechtsschutz und dadurch Beschränkungen des freien Verkehrs von Dienstleistungen und Produkten mit urheberrechtlichem Gehalt zur Folge haben, was zu einer Zersplitterung des Binnenmarkts und zu rechtlicher Inkohärenz führen würde. …

(9)      Jede Harmonisierung des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte muss von einem hohen Schutzniveau ausgehen, da diese Rechte für das geistige Schaffen wesentlich sind. Ihr Schutz trägt dazu bei, die Erhaltung und Entwicklung kreativer Tätigkeit im Interesse der Urheber, ausübenden Künstler, Hersteller, Verbraucher, von Kultur und Wirtschaft sowie der breiten Öffentlichkeit sicherzustellen. Das geistige Eigentum ist daher als Bestandteil des Eigentums anerkannt worden.

(15)      Die Diplomatische Konferenz, die unter der Schirmherrschaft der [WIPO] im Dezember 1996 stattfand, führte zur Annahme von zwei neuen Verträgen, dem [WCT] und dem [am 20. Dezember 1996 in Genf angenommenen und mit dem Beschluss 2000/278 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigten] WIPO-Vertrag über Darbietungen und Tonträger, die den Schutz der Urheber bzw. der ausübenden Künstler und Tonträgerhersteller zum Gegenstand haben. … Die vorliegende Richtlinie dient auch dazu, einigen dieser neuen internationalen Verpflichtungen nachzukommen.“

Art. 1 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 bestimmt:

„Gegenstand dieser Richtlinie ist der rechtliche Schutz des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte im Rahmen des Binnenmarkts, insbesondere in Bezug auf die Informationsgesellschaft.“

Art. 2 („Vervielfältigungsrecht“) der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten sehen für folgende Personen das ausschließliche Recht vor, die unmittelbare oder mittelbare, vorübergehende oder dauerhafte Vervielfältigung auf jede Art und Weise und in jeder Form ganz oder teilweise zu erlauben oder zu verbieten:

a)      für die Urheber in Bezug auf ihre Werke,

…“

Art. 3 („Recht der öffentlichen Wiedergabe von Werken und Recht der öffentlichen Zugänglichmachung sonstiger Schutzgegenstände“) Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten.“

Art. 4 („Verbreitungsrecht“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern in Bezug auf das Original ihrer Werke oder auf Vervielfältigungsstücke davon das ausschließliche Recht zusteht, die Verbreitung an die Öffentlichkeit in beliebiger Form durch Verkauf oder auf sonstige Weise zu erlauben oder zu verbieten.“

Art. 5 der Richtlinie 2001/29 führt die Fälle auf, in denen die Mitgliedstaaten Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf die in den Art. 2 bis 4 der Richtlinie vorgesehenen ausschließlichen Rechte vorsehen können.

Art. 10 („Zeitliche Anwendbarkeit“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Die Vorschriften dieser Richtlinie finden auf alle von ihr erfassten Werke und Schutzgegenstände Anwendung, die am 22. Dezember 2002 durch die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte geschützt sind oder die die Schutzkriterien im Sinne dieser Richtlinie oder der in Artikel 1 Absatz 2 genannten Bestimmungen erfüllen.“

 Richtlinie 2001/84/EG

Art. 7 („Anspruchsberechtigte aus Drittländern“) Abs. 1 der Richtlinie 2001/84/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2001 über das Folgerecht des Urhebers des Originals eines Kunstwerks (ABl. 2001, L 272, S. 32) bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass Urheber, die Staatsangehörige von Drittländern sind, und – vorbehaltlich des Artikels 8 Absatz 2 – deren Rechtsnachfolger das Folgerecht gemäß dieser Richtlinie und den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nur dann in Anspruch nehmen können, wenn die Rechtsvorschriften des Landes, dessen Staatsangehörigkeit der Urheber oder sein Rechtsnachfolger hat, den Schutz des Folgerechts für Urheber aus den Mitgliedstaaten und deren Rechtsnachfolger in diesem Land anerkennen.“

 Richtlinie 2006/116/EG

Art. 7 („Schutz im Verhältnis zu Drittländern“) Abs. 1 der Richtlinie 2006/116/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte (ABl. 2006, L 372, S. 12) sieht vor:

„Für Werke, deren Ursprungsland im Sinne der Berner Übereinkunft ein Drittland und deren Urheber nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Gemeinschaft ist, endet der in den Mitgliedstaaten gewährte Schutz spätestens mit dem Tag, an dem der Schutz im Ursprungsland des Werkes endet, ohne jedoch die Frist nach Artikel 1 zu überschreiten.“

 

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Vitra stellt „Designer“-Möbel her, darunter Stühle, die von den inzwischen verstorbenen Eheleuten Charles und Ray Eames, Staatsangehörigen der Vereinigten Staaten von Amerika, entworfen wurden, und ist Inhaberin von Rechten des geistigen Eigentums an diesen Stühlen.

Einer der von Vitra hergestellten Stühle ist der Dining Sidechair Wood (im Folgenden: DSW-Stuhl), der von den Eheleuten Eames im Rahmen eines vom Museum of Modern Art in New York (Vereinigte Staaten) im Jahr 1948 ausgeschriebenen Wettbewerbs für Möbeldesign entworfen und ab dem Jahr 1950 in diesem Museum ausgestellt wurde.

Kwantum betreibt in den Niederlanden und in Belgien eine Kette von Geschäften für Inneneinrichtungsgegenstände, u. a. Innenmobiliar.

Im Laufe des Jahres 2014 stellte Vitra fest, dass Kwantum einen Stuhl mit der Bezeichnung „Paris-Stuhl“ vermarktete und dabei nach Ansicht von Vitra deren Urheberrechte am DSW-Stuhl missachtete.

Die von Vitra angerufene Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) entschied, dass Kwantum weder die Urheberrechte von Vitra in den Niederlanden und in Belgien verletze, noch durch die Vermarktung des Paris-Stuhls unrechtmäßig handle. Sie wies somit die Anträge von Vitra zurück und gab den Anträgen von Kwantum größtenteils statt.

Dieses Urteil wurde vom Gerechtshof Den Haag (Berufungsgericht Den Haag, Niederlande) aufgehoben, der feststellte, dass Kwantum durch die Vermarktung des Paris-Stuhls die Urheberrechte von Vitra am DSW-Stuhl in den Niederlanden und in Belgien verletze.

Der mit der Revision befasste Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande), bei dem es sich um das vorlegende Gericht handelt, ist der Auffassung, dass der Rechtsstreit die Anwendbarkeit und die Tragweite von Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft betreffe, der u. a. vorsehe, dass für Werke, die im Ursprungsland nur als Muster und Modelle geschützt würden, in einem anderen Verbandsland nur der besondere Schutz beansprucht werden könne, der in diesem Land den Mustern und Modellen gewährt werde, und damit ein Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit aufstelle.

Insoweit weist das vorlegende Gericht erstens darauf hin, dass sich die Europäische Union, auch wenn sie nicht Vertragspartei der Berner Übereinkunft sei, in völkerrechtlichen Verträgen dazu verpflichtet habe, den Art. 1 bis 21 dieser Übereinkunft nachzukommen. Außerdem enthalte das Unionsrecht keine Bestimmung zum Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft, so dass sich die Frage stelle, ob die Mitgliedstaaten selbst bestimmen könnten, ob sie dieses Kriterium für ein Werk, dessen Ursprungsland ein Drittstaat und dessen Urheber ein Drittstaatsangehöriger sei, unangewendet ließen.

Zweitens sei das Urheberrecht an einem Werk der angewandten Kunst integraler Bestandteil des in Art. 17 Abs. 2 der Charta verankerten Rechts auf Schutz des geistigen Eigentums. Das Urteil vom 8. September 2020, Recorded Artists Actors Performers (C‑265/19, EU:C:2020:677), – in dem der Gerichtshof eine Bestimmung des WIPO-Vertrags über Darbietungen und Tonträger, dem die Union beigetreten sei, ausgelegt habe – werfe die Frage auf, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 52 Abs. 1 der Charta, für die Einschränkung der Ausübung des Urheberrechts an einem Werk der angewandten Kunst durch das Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft verlange, dass diese Einschränkung gesetzlich vorgesehen sei, und zwar durch eine klare und bestimmte Vorschrift. Insoweit könnte diesem Urteil entnommen werden, dass es allein Sache des Unionsgesetzgebers und nicht der nationalen Gesetzgeber sei, zu bestimmen, ob in der Union das Urheberrecht an einem Werk der angewandten Kunst durch die Anwendung von Art. 2 Abs. 7 der Berner Übereinkunft bei einem Werk der angewandten Kunst eingeschränkt werden könne, das aus einem Drittstaat stamme und dessen Urheber nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Union sei, und, wenn ja, diese Einschränkung klar und bestimmt zu definieren. Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts habe der Unionsgesetzgeber jedoch keine solche Einschränkung vorgesehen.

Drittens habe Kwantum vor dem vorlegenden Gericht geltend gemacht, dass das in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft vorgesehene Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit in den Anwendungsbereich von Art. 351 Abs. 1 AEUV falle. Es sei jedoch zu klären, inwieweit sich diese Bestimmung auf die Anwendung dieses Art. 2 Abs. 7 Satz 2 auf die das Königreich Belgien betreffenden Ansprüche auswirken könne.

Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Fällt die im vorliegenden Verfahren in Rede stehende Situation in den materiellen Anwendungsbereich des Unionsrechts?

Für den Fall, dass diese Frage zu bejahen ist, werden außerdem folgende Fragen vorgelegt:

2.      Führt der Umstand, dass sich der in Art. 17 Abs. 2 der Charta verankerte Schutz des geistigen Eigentums auf das Urheberrecht an einem Werk der angewandten Kunst erstreckt, dazu, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 52 Abs. 1 der Charta, für die Einschränkung der Ausübung des Urheberrechts (im Sinne der Richtlinie 2001/29) an einem Werk der angewandten Kunst durch die Anwendung des Kriteriums der materiellen Gegenseitigkeit gemäß Art. 2 Abs. 7 der Berner Übereinkunft voraussetzt, dass diese Einschränkung gesetzlich vorgesehen ist?

3.      Sind die Art. 2 bis 4 der Richtlinie 2001/29 sowie Art. 17 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 1 der Charta im Licht von Art. 2 Abs. 7 der Berner Übereinkunft dahin auszulegen, dass es allein Sache des Unionsgesetzgebers (und nicht der nationalen Gesetzgeber) ist, zu bestimmen, ob die Ausübung des Urheberrechts (im Sinne der Richtlinie 2001/29) in der Union durch die Anwendung des Kriteriums der materiellen Gegenseitigkeit gemäß Art. 2 Abs. 7 der Berner Übereinkunft bei einem Werk der angewandten Kunst eingeschränkt werden kann, das einen Drittstaat als Ursprungsland im Sinne der Berner Übereinkunft hat und dessen Urheber kein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Union ist, und, wenn ja, diese Einschränkung klar und bestimmt zu definieren?

4.      Sind die Art. 2 bis 4 der Richtlinie 2001/29 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass, solange der Unionsgesetzgeber keine Einschränkung der Ausübung des Urheberrechts (im Sinne der Richtlinie 2001/29) an einem Werk der angewandten Kunst durch die Anwendung des Kriteriums der materiellen Gegenseitigkeit gemäß Art. 2 Abs. 7 der Berner Übereinkunft vorgesehen hat, die Mitgliedstaaten dieses Kriterium bei einem Werk der angewandten Kunst nicht anwenden dürfen, das einen Drittstaat als Ursprungsland im Sinne der Berner Übereinkunft hat und dessen Urheber kein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist?

5.      Sind unter den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umständen und angesichts des Zeitpunkts des Zustandekommens (der Vorgängerregelung) von Art. 2 Abs. 7 der Berner Übereinkunft für das Königreich Belgien die Voraussetzungen von Art. 351 Abs. 1 AEUV erfüllt, so dass es Belgien aus diesem Grund freisteht, das Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit gemäß Art. 2 Abs. 7 der Berner Übereinkunft anzuwenden, und zwar unter Berücksichtigung des Umstands, dass vorliegend das Ursprungsland der Berner Übereinkunft am 1. Mai 1989 beigetreten ist?

 

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zulässigkeit

Als Erstes macht Kwantum geltend, das vorlegende Gericht habe nicht dargetan, inwiefern die „im vorliegenden Verfahren in Rede stehende Situation“ – ein Ausdruck, den es in seiner ersten Frage verwende, ohne ihn zu definieren – in den materiellen Anwendungsbereich des Unionsrechts falle, und das Vorabentscheidungsersuchen sei für den Erlass seiner Entscheidung im Ausgangsverfahren nicht erforderlich, so dass die von ihm gestellten Fragen hypothetisch seien.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das mit Art. 267 AEUV eingerichtete Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (Urteil vom 27. April 2023, Castorama Polska und Knor, C‑628/21, EU:C:2023:342, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im Rahmen dieses Verfahrens hat nur das nationale Gericht, das mit dem Ausgangsrechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten jeder Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Entscheidungserheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen. Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann das Ersuchen eines nationalen Gerichts somit nur dann zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 27. April 2023, Castorama Polska und Knor, C‑628/21, EU:C:2023:342, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Es entspricht ebenfalls einer ständigen Rechtsprechung, dass eine Auslegung des Unionsrechts, die für das nationale Gericht von Nutzen ist, nur dann möglich ist, wenn das vorlegende Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in dem sich seine Fragen stellen, darlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen, auf denen diese beruhen, erläutert. Außerdem muss die Vorlageentscheidung die genauen Gründe angeben, aus denen dem nationalen Gericht die Auslegung des Unionsrechts fraglich und die Vorlage einer Vorabentscheidungsfrage an den Gerichtshof erforderlich erscheint (Urteil vom 27. April 2023, Castorama Polska und Knor, C‑628/21, EU:C:2023:342, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Erwägungen in den Rn. 28 bis 30 des vorliegenden Urteils, dass das vorlegende Gericht den rechtlichen und tatsächlichen Kontext des Ausgangsrechtsstreits klar dargelegt hat, wobei mit der ersten Vorlagefrage speziell geklärt werden soll, ob dieser in den materiellen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Außerdem geht aus diesen Randnummern hervor, dass das vorlegende Gericht die Gründe, aus denen ihm die Auslegung bestimmter Vorschriften fraglich erscheint, die es für erforderlich erachtet, um seine Entscheidung treffen zu können, rechtlich hinreichend dargetan hat, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass die erbetene Auslegung in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünde oder dass das aufgeworfene Problem hypothetischer Natur wäre. Unter diesen Umständen kann die in Rn. 34 des vorliegenden Urteils erwähnte Vermutung der Entscheidungserheblichkeit nicht in Frage gestellt werden.

Als Zweites machen Kwantum und die niederländische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, dass die Fragen, die das vorlegende Gericht im Ausgangsrechtsstreit zu entscheiden habe, nur Art. 2 Abs. 7 und Art. 5 Abs. 1 der Berner Übereinkunft beträfen, so dass keine Bestimmung des Unionsrechts einer Auslegung durch den Gerichtshof bedürfe.

Einem solchen Argument, das im Wesentlichen die Erforderlichkeit der Vorlagefragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits betrifft, kann nicht gefolgt werden. Wie nämlich aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere die Richtlinie 2001/29 im Licht der einschlägigen Bestimmungen der Charta sowie Art. 351 AEUV, der Anwendung von Art. 2 Abs. 7 der Berner Übereinkunft durch das nationale Gericht im Ausgangsverfahren entgegensteht.

Diese Frage betrifft jedoch den Inhalt der gestellten Fragen.

Außerdem muss sich die Union, wie das vorlegende Gericht zutreffend ausgeführt hat, auch wenn sie nicht Vertragspartei der Berner Übereinkunft ist, an die Art. 1 bis 21 dieser Übereinkunft halten – zum einen nach Art. 1 Abs. 4 des WCT, dem sie beigetreten ist (Urteile vom 13. November 2018, Levola Hengelo, C‑310/17, EU:C:2018:899, Rn. 38, und vom 12. September 2019, Cofemel, C‑683/17, EU:C:2019:721, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung), und zum anderen nach Art. 9 des TRIPS-Übereinkommens –, so dass diese Übereinkunft in der Union mittelbare Wirkungen entfaltet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. März 2012, SCF Consorzio Fonografici, C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 50, und vom 18. November 2020, Atresmedia Corporación de Medios de Comunicación, C‑147/19, EU:C:2020:935, Rn. 36) und sich der Gerichtshof veranlasst sehen kann, ihre Bestimmungen auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juli 2009, Infopaq International, C‑5/08, EU:C:2009:465, Rn. 34, vom 16. März 2017, AKM, C‑138/16, EU:C:2017:218, Rn. 21 und 44, sowie vom 12. September 2019, Cofemel, C‑683/17, EU:C:2019:721, Rn. 42).

Folglich sind die Vorlagefragen zulässig.

 Zur Beantwortung der Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation in den materiellen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Ausgangsrechtsstreit eine Klage von Vitra vor den niederländischen Gerichten betrifft, mit der diese Gesellschaft in den Niederlanden und in Belgien urheberrechtlichen Schutz des von Staatsangehörigen der Vereinigten Staaten von Amerika entworfenen und aus diesem Drittstaat stammenden DSW-Stuhls beansprucht, von dem Kwantum Nachahmungen vermarktet habe.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Gegenstand der Richtlinie 2001/29, wie sich aus ihrem Art. 1 Abs. 1 ergibt, der rechtliche Schutz des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte im Rahmen des Binnenmarkts ist.

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 31 und 33 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, wird der Anwendungsbereich der Richtlinie nicht nach dem Kriterium des Ursprungslandes des Werks oder der Staatsangehörigkeit seines Urhebers definiert, sondern unter Bezugnahme auf den Binnenmarkt, der dem in Art. 52 EUV angegebenen räumlichen Geltungsbereich der Verträge entspricht. Vorbehaltlich von Art. 355 AEUV umfasst der räumliche Geltungsbereich der Verträge die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2020, Recorded Artists Actors Performers, C‑265/19, EU:C:2020:677, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Außerdem finden nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 die Vorschriften dieser Richtlinie, mit der bestimmte Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft harmonisiert werden, auf alle von ihr erfassten Werke und Schutzgegenstände Anwendung, die zu dem für ihre Umsetzung vorgesehenen Zeitpunkt die Schutzkriterien im Sinne ihrer Vorschriften erfüllen. Daraus folgt, dass diese Richtlinie auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar sein kann.

Insbesondere hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass in Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 die ausschließlichen Rechte zur Vervielfältigung und öffentlichen Wiedergabe, über die die Urheberrechtsinhaber in der Union verfügen, eindeutig festgelegt werden, wobei diese Bestimmungen einen harmonisierten rechtlichen Rahmen bieten, der einen hohen und homogenen Schutz der Rechte auf Vervielfältigung und auf öffentliche Wiedergabe gewährleistet, und Maßnahmen zur vollständigen Harmonisierung des materiellen Gehalts der in ihnen enthaltenen Rechte darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Funke Medien NRW, C‑469/17, EU:C:2019:623, Rn. 35 bis 38). Was außerdem Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 betrifft, geht aus seinem Wortlaut hervor, dass in dieser Vorschrift das darin genannte ausschließliche Recht zur Verbreitung an die Öffentlichkeit ebenfalls eindeutig festgelegt wird, wobei diese Maßnahme wie die soeben genannten Bestimmungen eine Maßnahme zur vollständigen Harmonisierung des materiellen Gehalts des in ihr enthaltenen Rechts darstellt.

In Bezug auf die Frage, ob diese Bestimmungen auf einen Gegenstand der angewandten Kunst wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden DSW-Stuhl Anwendung finden, ist hinzuzufügen, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass ein solcher Gegenstand als „Werk“ im Sinne der Richtlinie 2001/29 eingestuft werden kann, wenn zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind. Zum einen muss es sich bei dem betreffenden Objekt um ein Original in dem Sinne handeln, dass es eine eigene geistige Schöpfung seines Urhebers darstellt. Zum anderen ist die Einstufung als „Werk“ im Sinne der Richtlinie 2001/29 Elementen vorbehalten, die eine solche geistige Schöpfung zum Ausdruck bringen (Urteil vom 13. November 2018, Levola Hengelo, C‑310/17, EU:C:2018:899‚ Rn. 35 bis 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Wenn ein Gegenstand der angewandten Kunst die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Merkmale aufweist und daher ein Werk ist, muss er in dieser Eigenschaft gemäß dieser Richtlinie urheberrechtlich geschützt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. September 2019, Cofemel, C‑683/17, EU:C:2019:721, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass, sofern die materiellen Voraussetzungen der Richtlinie 2001/29 erfüllt sind und insbesondere ein Gegenstand der angewandten Kunst wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende als „Werk“ im Sinne dieser Richtlinie eingestuft werden kann, die Bestimmungen dieser Richtlinie anwendbar sind.

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass eine Situation, in der eine Gesellschaft urheberrechtlichen Schutz eines in einem Mitgliedstaat vermarkteten Gegenstands der angewandten Kunst beansprucht, in den materiellen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, sofern dieser Gegenstand als „Werk“ im Sinne der Richtlinie 2001/29 eingestuft werden kann.

 

 Zu den Fragen 2 bis 4

Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zweckdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Er hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 30. April 2024, M. N. [EncroChat], C‑670/22, EU:C:2024:372, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Wie der Generalanwalt in Nr. 22 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass im Ausgangsrechtsstreit das streitige Verhalten in der Vermarktung von Gegenständen, und zwar Exemplaren eines Stuhls, durch Kwantum besteht, wodurch nach Angaben von Vitra ihr Urheberrecht missachtet wird, so dass Art. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29, die dem Urheber eines Werks die ausschließlichen Rechte zur Vervielfältigung bzw. Verbreitung dieses Werks verleihen, einschlägig sind. Dagegen geht aus den Akten nicht hervor, dass dieses Verhalten eine öffentliche Wiedergabe eines Werks im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellen könnte.

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen 2 bis 4, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie es den Mitgliedstaaten verwehren, das in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft vorgesehene Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit auf ein Werk der angewandten Kunst anzuwenden, dessen Ursprungsland ein Drittstaat und dessen Urheber ein Drittstaatsangehöriger ist.

Zur Beantwortung dieser Fragen ist in einem ersten Schritt zu klären, ob die genannten Bestimmungen auf ein Werk der angewandten Kunst Anwendung finden, dessen Ursprungsland ein Drittstaat oder dessen Urheber ein Drittstaatsangehöriger ist, und in einem zweiten Schritt, ob diese Bestimmungen der Anwendung des in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft vorgesehenen Kriteriums der materiellen Gegenseitigkeit im nationalen Recht entgegenstehen.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen sind, und zwar nach Maßgabe des Wortlauts der Vorschrift, ihres systematischen Zusammenhangs und der Ziele der Regelung, zu der sie gehört (Urteil vom 8. September 2020, Recorded Artists Actors Performers, C‑265/19, EU:C:2020:677, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Was als Erstes den Wortlaut von Art. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 betrifft, ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nach diesen Bestimmungen für die Urheber die ausschließlichen Rechte vorsehen, zum einen die unmittelbare oder mittelbare, vorübergehende oder dauerhafte Vervielfältigung ihrer Werke auf jede Art und Weise und in jeder Form ganz oder teilweise zu erlauben oder zu verbieten und zum anderen – in Bezug auf das Original ihrer Werke oder auf Vervielfältigungsstücke davon – die Verbreitung an die Öffentlichkeit in beliebiger Form durch Verkauf oder auf sonstige Weise zu erlauben oder zu verbieten.

Hierzu ist festzustellen, dass diese Bestimmungen weder ausdrücklich festlegen, ob der darin verwendete Begriff „Werk“ ein Werk der angewandten Kunst mit Ursprung in einem Drittstaat umfasst, noch, ob der Begriff „Urheber“ in ihrem Sinne einen Urheber eines solchen Werkes umfasst, der Drittstaatsangehöriger ist.

Der Gerichtshof hat jedoch, wie in den Rn. 48 und 49 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bereits entschieden, dass ein Gegenstand, wenn er als „Werk“ im Sinne der Richtlinie 2001/29 eingestuft werden kann, in dieser Eigenschaft gemäß dieser Richtlinie urheberrechtlich geschützt werden muss, wobei die Richtlinie im Übrigen keine Bedingung in Bezug auf das Ursprungsland des betreffenden Werks oder die Staatsangehörigkeit seines Urhebers vorsieht.

Was als Zweites den systematischen Zusammenhang der fraglichen Bestimmungen anbelangt, ist erstens in Anbetracht der Ausführungen in den Rn. 44 und 45 des vorliegenden Urteils festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber, indem er den Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/29 anhand eines territorialen Kriteriums definiert hat, zwangsläufig sämtliche Werke berücksichtigt hat, deren Schutz im Gebiet der Union begehrt wird, unabhängig vom Ursprungsland dieser Werke oder der Staatsangehörigkeit ihres Urhebers.

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass bestimmte Instrumente des harmonisierten Urheberrechts eine spezielle Regelung für Werke vorsehen, deren Ursprungsland im Sinne der Berner Übereinkunft ein Drittstaat und deren Urheber nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist. So sieht die Richtlinie 2006/116, insbesondere ihr Art. 7 Abs. 1, vor, dass der Schutz der Urheberrechte, der in den Mitgliedstaaten solchen Werken gewährt wird, spätestens mit dem Tag endet, an dem der Schutz im Ursprungsland des Werkes endet, ohne jedoch die in dieser Richtlinie vorgesehene Frist zu überschreiten. Wie Vitra hervorhebt, wäre eine solche Regelung, die speziell den Schutz der Rechte der Urheber und der Werke, deren Ursprungsland ein Drittstaat ist, betrifft, aber nutzlos, wenn der Schutz der betreffenden Werke nicht durch die Richtlinie 2001/29 gewährleistet wäre.

Als Drittes steht die in Rn. 60 des vorliegenden Urteils dargestellte Auslegung im Einklang mit den Zielen der Richtlinie 2001/29.

Erstens zielt die Richtlinie, wie in ihrem sechsten Erwägungsgrund ausgeführt, u. a. darauf ab, erhebliche Unterschiede im Rechtsschutz und dadurch Beschränkungen des freien Verkehrs von Dienstleistungen und Produkten mit urheberrechtlichem Gehalt, die zu einer Zersplitterung des Binnenmarkts und zu rechtlicher Inkohärenz führen würden, zu vermeiden, wobei jede Harmonisierung des Urheberrechts nach dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie von einem hohen Schutzniveau ausgehen muss. Dieses Ziel würde jedoch verkannt, wenn die Richtlinie 2001/29 in der Union nur den urheberrechtlichen Schutz von Werken regeln würde, die ihren Ursprung in einem Mitgliedstaat haben oder deren Urheber ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist.

Zweitens heißt es im 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/29, dass diese auch dazu dient, einigen der sich aus dem WCT ergebenden internationalen Verpflichtungen nachzukommen. Insoweit muss die Union nach Art. 9 Abs. 1 des TRIPS-Übereinkommens und Art. 1 Abs. 4 des WCT zum einen, wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils ausgeführt, den Art. 1 bis 21 der Berner Übereinkunft, und zum anderen dem Anhang dieser Übereinkunft nachkommen. Aus Art. 5 Abs. 1 der Berner Übereinkunft geht hervor, dass die Urheber für die Werke, für die sie durch diese Übereinkunft geschützt sind, in allen Verbandsländern mit Ausnahme des Ursprungslandes des Werks die Rechte genießen, die die einschlägigen Gesetze den inländischen Urhebern gegenwärtig gewähren oder in Zukunft gewähren werden.

Somit würden, wie der Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die mit der Richtlinie 2001/29 auf dem Gebiet des geistigen Eigentums umgesetzten internationalen Verpflichtungen der Union verletzt, wenn diese Richtlinie das Urheberrecht in Bezug auf Werke, deren Ursprungsland ein Mitgliedstaat oder deren Urheber ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, harmonisieren würde, während sie es dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten überließe, die rechtliche Regelung zu bestimmen, die für Werke gilt, deren Ursprungsland ein Drittstaat oder deren Urheber ein Drittstaatsangehöriger ist.

Daher finden Art. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 Anwendung auf Werke der angewandten Kunst, die ihren Ursprung in Drittstaaten haben oder deren Urheber Staatsangehörige solcher Staaten sind.

Hinsichtlich der Frage, ob diese Bestimmungen es den Mitgliedstaaten verwehren, im nationalen Recht das in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft vorgesehene Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit auf ein Werk der angewandten Kunst anzuwenden, dessen Ursprungsland ein Drittstaat oder dessen Urheber ein Drittstaatsangehöriger ist, wurde in Rn. 57 des vorliegenden Urteils darauf hingewiesen, dass nach Art. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 die Mitgliedstaaten für die Urheber die ausschließlichen Rechte vorsehen, die Vervielfältigung ihrer Werke sowie deren Verbreitung an die Öffentlichkeit zu erlauben oder zu verbieten. Außerdem finden diese Bestimmungen, wie sich aus der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils ergibt, Anwendung auf Werke der angewandten Kunst, die ihren Ursprung in Drittstaaten haben oder deren Urheber Staatsangehörige solcher Staaten sind.

Zum einen verstieße die Anwendung dieses Kriteriums der materiellen Gegenseitigkeit durch einen Mitgliedstaat nicht nur gegen den Wortlaut dieser Bestimmungen, wie der Generalanwalt in Nr. 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sondern sie würde auch das Ziel dieser Richtlinie untergraben, das in der Harmonisierung des Urheberrechts im Binnenmarkt liegt. Durch die Anwendung dieses Kriteriums könnten Werke der angewandten Kunst mit Ursprung in Drittstaaten nämlich in verschiedenen Mitgliedstaaten gemäß zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat bilateral anwendbaren vertragsrechtlichen Bestimmungen unterschiedlich behandelt werden.

Zum anderen muss jedenfalls, da die in Rn. 66 des vorliegenden Urteils genannten Rechte des geistigen Eigentums nach Art. 17 Abs. 2 der Charta geschützt sind, jede Einschränkung der Ausübung dieser Rechte gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten.

Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass die Anwendung des in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft vorgesehenen Kriteriums der materiellen Gegenseitigkeit durch einen Mitgliedstaat eine solche Einschränkung darstellen kann, da sie den etwaigen Inhaber der betreffenden Rechte in einem Teil des Binnenmarkts, nämlich im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der die entsprechende Klausel anwendet, möglicherweise daran hindert, diese Rechte zu genießen und auszuüben.

Wie sich aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergibt, muss eine solche Einschränkung gesetzlich vorgesehen sein.

Insoweit hat der Gerichtshof festgestellt, dass es, wenn eine Vorschrift des Unionsrechts den Schutz des Urheberrechts harmonisiert, allein Sache des Unionsgesetzgebers und nicht der nationalen Gesetzgeber ist, zu bestimmen, ob die Zuerkennung des Urheberrechts in der Union für Werke, deren Ursprungsland ein Drittstaat oder deren Urheber ein Drittstaatsangehöriger ist, einzuschränken ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2020, Recorded Artists Actors Performers, C‑265/19, EU:C:2020:677, Rn. 88).

Durch den Erlass der Richtlinie 2001/29 hat der Unionsgesetzgeber nämlich die zuvor den Mitgliedstaaten übertragenen Zuständigkeiten auf dem betreffenden Gebiet wahrgenommen. Somit ist im Anwendungsbereich dieser Richtlinie davon auszugehen, dass die Union an die Stelle der Mitgliedstaaten getreten ist, die nicht mehr für die Umsetzung der einschlägigen Vorschriften der Berner Übereinkunft zuständig sind (Urteil vom 26. April 2012, DR und TV2 Danmark, C‑510/10, EU:C:2012:244, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall enthält, wie der Generalanwalt in Nr. 40 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, weder Art. 2 Buchst. a noch Art. 4 Abs. 1 noch irgendeine andere Bestimmung der Richtlinie 2001/29 beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts eine Einschränkung wie die in Rn. 70 des vorliegenden Urteils genannte.

Im Übrigen trifft es zwar zu, dass die Richtlinie 2001/29 tatsächlich die Harmonisierung nur bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte zum Ziel hat und außerdem einige ihrer Bestimmungen die Absicht des Unionsgesetzgebers erkennen lassen, den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum einzuräumen (Urteile vom 29. Juli 2019, Funke Medien NRW, C‑469/17, EU:C:2019:623, Rn. 34, und vom 29. Juli 2019, Spiegel Online, C‑516/17, EU:C:2019:625, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass die Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf die in den Art. 2 bis 4 der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen ausschließlichen Rechte in Art. 5 dieser Richtlinie erschöpfend aufgeführt sind, da andernfalls die Wirksamkeit der durch die Richtlinie bewirkten Harmonisierung des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte, das mit ihr verfolgte Ziel der Rechtssicherheit sowie das Erfordernis der Kohärenz bei der Umsetzung dieser Ausnahmen und Beschränkungen beeinträchtigt würden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Funke Medien NRW, C‑469/17, EU:C:2019:623, Rn. 56, 62 und 63 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Dieser Art. 5 enthält beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts keine Einschränkung, die derjenigen des Kriteriums der materiellen Gegenseitigkeit in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft entspräche.

Insoweit unterscheidet sich die Richtlinie 2001/29 somit von anderen Instrumenten zur Harmonisierung des Urheberrechts, die der Unionsgesetzgeber im Einklang mit den Bestimmungen dieser Übereinkunft erlassen hat.

Insbesondere sieht die Berner Übereinkunft u. a. begrenzte Ausnahmen in Bezug auf Werke der angewandten Kunst, die Schutzdauer und das Folgerecht vor, nach denen die Vertragsparteien der Übereinkunft die Möglichkeit haben, ein Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit anzuwenden, und als solche nicht zur Anwendung einer Inländerbehandlung nach Art. 5 Abs. 1 der Übereinkunft verpflichtet sind.

Zwar hat der Unionsgesetzgeber entschieden, gemäß Art. 7 Abs. 8 bzw. Art. 14ter Abs. 2 der Berner Übereinkunft ein Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit zum einen in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2006/116 in Bezug auf die Schutzdauer und zum anderen in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2001/84 in Bezug auf das Folgerecht anzuwenden. Demgegenüber hat er aber weder in der Richtlinie 2001/29 noch in einer anderen Bestimmung des Unionsrechts eine Einschränkung der den Urhebern in Art. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie gewährten ausschließlichen Rechte in Form eines Kriteriums der materiellen Gegenseitigkeit wie dem in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft vorgesehenen vorgenommen. Insoweit ist es, wie in Rn. 72 des vorliegenden Urteils ausgeführt, allein Sache des Unionsgesetzgebers und nicht der nationalen Gesetzgeber, gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta durch Rechtsvorschriften der Union vorzusehen, ob die Zuerkennung der in Art. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Rechte in der Union einzuschränken ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2020, Recorded Artists Actors Performers, C‑265/19, EU:C:2020:677, Rn. 88 und 91).

Nach alledem ist auf die Fragen 2 bis 4 zu antworten, dass Art. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts den Mitgliedstaaten verwehren, das in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft vorgesehene Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit im nationalen Recht auf ein Werk der angewandten Kunst anzuwenden, dessen Ursprungsland ein Drittstaat und dessen Urheber ein Drittstaatsangehöriger ist. Es ist allein Sache des Unionsgesetzgebers, gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta durch Rechtsvorschriften der Union vorzusehen, ob die Zuerkennung der in Art. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Rechte in der Union einzuschränken ist.

 

 Zur fünften Frage

Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 351 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat gestattet, abweichend von den Bestimmungen des Unionsrechts das in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft enthaltene Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit auf ein Werk anzuwenden, dessen Ursprungsland die Vereinigten Staaten von Amerika sind.

Nach Art. 351 Abs. 1 AEUV werden die Rechte und Pflichten aus Übereinkünften, die vor dem 1. Januar 1958 oder, im Falle später beigetretener Staaten, vor dem Zeitpunkt ihres Beitritts zwischen einem oder mehreren Mitgliedstaaten einerseits und einem oder mehreren dritten Ländern andererseits geschlossen wurden, durch die Verträge nicht berührt.

Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, weist die Berner Übereinkunft die Merkmale einer internationalen Übereinkunft im Sinne von Art. 351 AEUV auf (Urteil vom 9. Februar 2012, Luksan, C‑277/10, EU:C:2012:65, Rn. 58).

Art. 351 Abs. 1 AEUV bezweckt, gemäß den Grundsätzen des Völkerrechts klarzustellen, dass die Anwendung des Vertrags nicht die Pflicht des betreffenden Mitgliedstaats berührt, die Rechte von Drittstaaten aus einer vor seinem Beitritt geschlossenen Übereinkunft zu wahren und seine entsprechenden Verpflichtungen zu erfüllen (Urteil vom 9. Februar 2012, Luksan, C‑277/10, EU:C:2012:65, Rn. 61).

Insoweit ist angesichts der Antwort auf die Fragen 2 bis 4 davon auszugehen, dass sich die Mitgliedstaaten nicht mehr auf die Möglichkeit berufen können, das Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft anzuwenden, auch wenn dieses Übereinkommen vor dem 1. Januar 1958 in Kraft getreten ist.

Wie sich nämlich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, muss ein Mitgliedstaat, wenn eine von ihm vor seinem Beitritt zur Union geschlossene internationale Übereinkunft ihm wie im vorliegenden Fall gestattet, eine unionsrechtswidrige Maßnahme zu treffen, ohne ihn jedoch dazu zu verpflichten, vom Erlass einer solchen Maßnahme absehen (Urteile vom 28. März 1995, Evans Medical und Macfarlan Smith, C‑324/93, EU:C:1995:84, Rn. 32, und vom 9. Februar 2012, Luksan, C‑277/10, EU:C:2012:65, Rn. 62).

Außerdem kann sich der betreffende Mitgliedstaat, wenn sich aufgrund einer Entwicklung des Unionsrechts eine Gesetzesmaßnahme, die er gemäß der nach einer früheren internationalen Übereinkunft eröffneten Befugnis getroffen hat, als unionsrechtswidrig erweist, nicht auf diese Übereinkunft berufen, um von den später aus dem Unionsrecht erwachsenen Verpflichtungen freigestellt zu werden (Urteil vom 9. Februar 2012, Luksan, C‑277/10, EU:C:2012:65, Rn. 63).

Dem ist hinzuzufügen, dass im vorliegenden Fall Art. 2 Abs. 7 Satz 1 der Berner Übereinkunft den Vertragsparteien dieser Übereinkunft einen Gestaltungsspielraum einräumt, indem er u. a. vorsieht, dass es Sache der Gesetzgebung der Verbandsländer ist, den Anwendungsbereich der Gesetze, die die Werke der angewandten Kunst und die gewerblichen Muster und Modelle betreffen, sowie die Voraussetzungen des Schutzes dieser Werke, Muster und Modelle festzulegen.

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 59 bis 62 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, geht erstens aus dem Wortlaut dieser Bestimmung nicht hervor, dass sie es einem Vertragsstaat der Berner Übereinkunft verbietet, ein Werk der angewandten Kunst, das im Ursprungsland dieses Werks nur aufgrund einer besonderen Regelung als Muster oder Modell geschützt wird, urheberrechtlich zu schützen. Zweitens stünde ein solches Verbot im Widerspruch zum Ziel dieser Übereinkunft, das im Grundsatz der „Inländerbehandlung“ und dem sich aus ihren materiellen Bestimmungen ergebenden Mindestniveau des Schutzes zum Ausdruck kommt und darin besteht, Urhebern außerhalb des Ursprungslandes eines Werks Schutz zu gewähren. Drittens heißt es in Art. 19 der Berner Übereinkunft jedenfalls ausdrücklich, dass ihre Bestimmungen nicht daran hindern, die Anwendung von weitergehenden Bestimmungen zu beanspruchen, die durch die Gesetzgebung eines Vertragsstaats der Übereinkunft etwa erlassen werden.

Unter diesen Umständen kann sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 2 Abs. 7 der Berner Übereinkunft berufen, um von den Verpflichtungen aus der Richtlinie 2001/29 freigestellt zu werden.

Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 351 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, abweichend von den Bestimmungen des Unionsrechts das in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der Berner Übereinkunft enthaltene Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit auf ein Werk anzuwenden, dessen Ursprungsland die Vereinigten Staaten von Amerika sind.

 Kosten

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Eine Situation, in der eine Gesellschaft urheberrechtlichen Schutz eines in einem Mitgliedstaat vermarkteten Gegenstands der angewandten Kunst beansprucht, fällt in den materiellen Anwendungsbereich des Unionsrechts, sofern dieser Gegenstand als „Werk“ im Sinne der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft eingestuft werden kann.

2.      Art. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

sind dahin auszulegen, dass

sie es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts den Mitgliedstaaten verwehren, das in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der am 9. September 1886 in Bern unterzeichneten Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst (Pariser Fassung vom 24. Juli 1971) in der Fassung der Änderung vom 28. September 1979 vorgesehene Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit im nationalen Recht auf ein Werk der angewandten Kunst anzuwenden, dessen Ursprungsland ein Drittstaat und dessen Urheber ein Drittstaatsangehöriger ist. Es ist allein Sache des Unionsgesetzgebers, gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte durch Rechtsvorschriften der Union vorzusehen, ob die Zuerkennung der in Art. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Rechte in der Union einzuschränken ist.

3.      Art. 351 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, abweichend von den Bestimmungen des Unionsrechts das in Art. 2 Abs. 7 Satz 2 der am 9. September 1886 in Bern unterzeichneten Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst (Pariser Fassung vom 24. Juli 1971) in der Fassung der Änderung vom 28. September 1979 enthaltene Kriterium der materiellen Gegenseitigkeit auf ein Werk anzuwenden, dessen Ursprungsland die Vereinigten Staaten von Amerika sind.

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