Keine Zwangsvollstreckung auf Grundlage verfassungswidriger Normauslegung

08. April 2010
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Eigener Leitsatz:

Die Zwangsvollstreckung aus einem Urteil ist dann unzulässig, wenn dieses Urteil auf einer nachträglich für verfassungswidrig erklärten Normauslegung beruht.

Oberlandesgericht Hamm

Urteil vom 17.02.2010

Az.: 3 U 106/09

Tenor:     

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 13.05.2009 verkündete Urteil der

2. Zivilkammer des Landgerichts Hagen teilweise abgeändert.

Die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Hagen vom 10.01.2007 (8 O 212/06) wird für unzulässig erklärt.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Klägerin ist durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Hagen vom 10.01.2007 verpflichtet worden, es zu unterlassen, in (ihren) städtischen Bühnen das Stück "F" des Autors J aufzuführen (8 O 212/06).

Vorangegangen war ein unter den Aktenzeichen 4 O 82/06 beim Landgericht Hagen (= 3 W 22/06 – Oberlandesgericht Hamm) geführtes Einstweiliges Verfügungsverfahren, in dem ihr auf Antrag der jetzigen Beklagten bereits im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die Aufführung des Bühnenstücks in ihrem Bereich untersagt worden war.

Das sodann im Hauptsacheverfahren am 10.01.2007 zur Geschäftsnummer 8 O 212/06 durch das Landgericht Hagen ergangene Unterlassungsurteil begründete das darin ausgesprochene Aufführungsverbot des Stückes "F" auf den städtischen Bühnen der jetzigen Klägerin damit, dass das postmortale Persönlichkeitsrecht der Ende Mai 2004 im Alter von 14 Jahren durch eine Straftat zu Tode gekommenen Tochter der Beklagten durch das Bühnenstück verletzt werde; dieses vermittele seinen Betrachtern aus dem Umfeld ihres Bekanntenkreises ein entstellendes Persönlichkeitsbild von der Verstorbenen und breite deren Intimsphäre vor der Öffentlichkeit aus. Es bestehe ein schützenswertes Interesse der nächsten Angehörigen, die Erinnerung an die Tat und die ihr zugrunde liegenden Lebensumstände des Opfers in dessen Bekanntenkreis nicht durch das Bühnenstück fortwährend wach zu halten. Erst wenn die Erinnerung des maßgeblichen Personenkreises verblasst sei, könne ein weniger strenger Maßstab gerechtfertigt sein.

Das Urteil vom 10.01.2007 – wegen dessen Einzelheiten auf die beigezogenen Prozessakte 8 O 212/06 des LG Hagen (dort: GA 271 ff.) verwiesen wird – wurde rechtskräftig, nachdem die seinerzeit unterlegene jetzige Klägerin kein Rechtsmittel eingelegt hatte.

Ein von der Beklagten weitergehend eingeleitetes zivilrechtliches Untersagungsverfahren gegen die Betreiberin eines Theaters in Z1 vor dem dortigen Landgericht hatte keinen Erfolg. Das Landgericht Essen lehnte durch Urteil vom 06.10.2006 ein Verbot dort ab; die seitens der jetzigen Beklagten eingelegte Berufung zur Geschäftsnummer 3 U 258/06 des Oberlandesgerichts Hamm blieb erfolglos. Ihre daraufhin eingelegte Verfassungsbeschwerde zur Geschäftsnummer 1 BvR 1533/07 nahm das Bundesverfassungsgericht nicht an; in seinen Nichtannahmebeschluss vom 19.12.2007 (veröffentlich in GRUR 2008, 206 = AfP 2008, 161= NJW 08,1657) verwies es darauf, dass die wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits durch seine Beschlüsse vom 24.02.1971 (BVerfGE 30, 173; sog. MEPHISTO-Entscheidung) und vom 13.06.2007 (BVerfGE 119, 1 ; sog. ESRA-Entscheidung) geklärt seien und die Ablehnung des Aufführungsverbotes durch die Gerichte das postmortale Persönlichkeitsrecht der Tochter der Beschwerdeführerin nicht verletze.
   
Auf eine Klage des Theater- und Bühnenverlages gegen die jetzige Beklagte stellte der Bundesgerichtshof in einem weiteren Verfahren durch Urteil vom 16.09.2008 –IV ZR 224/07– (NJW 09, 751=VersR 09,121) fest, dass das Bühnenstück "F" die Persönlichkeitsrechte der Beklagten und ihrer Tochter nicht verletze.

Mit ihrer im Januar 2007 beim Landgericht Hagen eingereichten Klage erstrebt die Klägerin nunmehr neben einer Aufhebung der ihr nachteiligen Entscheidungen des einstweiligen Verfügungsverfahrens, dass die Zwangsvollstreckung aus dem dortigen Urteil des Hauptsacheverfahrens vom 10.01.2007 für unzulässig erklärt werden möge. Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Feststellungen der Entscheidung des Landgerichts Hagen vom 13.05.2009 Bezug genommen (§ 540 I 1 Ziff. 1 ZPO).

Das Landgericht hat es – unter Aufhebung der seinerzeitigen einstweiligen Verbotsverfügung vom 05.04.2006 und deren Bestätigung vom 09.05.2006 – mit dem angefochtenen Urteil abgelehnt, die weitere Vollstreckung des Verbotsurteils vom 10.01.2007 zur Geschäftsnummer 8 O 212/06 zugunsten der Klägerin – wie beantragt – für unzulässig zu erklären. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

Die zulässige Vollstreckungsgegenklage könne keine zwischenzeitliche Änderung der Rechtsprechung geltend machen, die nach § 767 ZPO zu berücksichtigen sei. Zunächst liege ein dafür erforderlicher grundlegender Wandel der gesamten Rechtsauffassung nicht vor. Auch sei keine Entscheidung des Bundeverfassungsgerichtes ergangen, die nach §§ 79 II, 95 III BVerfG (in direkter oder analoger Anwendung) eine Vollstreckungsgegenklage rechtfertige. Der zwischenzeitlich im weiteren Verbotsverfahren der Beklagten gegen die Stadt Z1 erlassene Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 19.12.2007 befasse sich zwar mit dem Verhältnis zwischen postmortalem Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit und werde fortan zweifelsfrei bei Anwendung der den Verbotsausspruch tragenden Unterlassungsnormen aus §§ 823, 1004 BGB interpretationsleitend berücksichtigt werden. Jedoch sei diesem Beschluss ausdrücklich zu entnehmen, dass ihm keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukomme, weil die wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits durch die vorangehenden Entscheidungen vom 24.02.1971 (Mephisto) und 13.06.2007 (Esra) geklärt worden seien. Zumindest die erste dieser beiden Entscheidungen sei schon vor dem Erlass des fraglichen Verbotsurteils vom 10.01.2007 bekannt gewesen. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 16.09.2008 zugunsten des Theaterstück-Verlages beinhalte keinen Wandel der gesamten Rechtsauffassung, sondern stehe vielmehr auf dem Boden der vorherigen Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen. Schließlich könne nicht angenommen werden, dass der Unterlassungsanspruch wegen Zeitablaufes und einer damit einhergehenden verblassten Erinnerung des Bekanntenkreises entfallen sei, nachdem erst etwa 5 Jahre seit der Tat verstrichen seien, in denen es zahlreiche rechtliche Auseinandersetzungen um die Aufführung des Stücks "F" gegeben habe. Ebenso wenig sei die Aufrechterhaltung des die Aufführung in I untersagenden Urteils und der Zwangsvollstreckung daraus mit Gerechtigkeitsprinzipen (§ 826 BGB) unvereinbar.

Gegen diese am 13.05.2009 ergangene Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten Berufung, soweit es das Landgericht abgelehnt hat, die Vollstreckung des Verbotsurteils vom 10.01.2007 für unzulässig zu erklären.

Mit ihrem Rechtsmittel macht die Klägerin im Wesentlichen geltend:

Der Vollstreckung aus dem Unterlassungstitel stehe eine gewandelte Rechtsauffassung aufgrund nachfolgender Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen entgegen.

Die Vollstreckungsgegenklage sei nach den §§ 79 II BVerfGG, 767 ZPO auch dann eröffnet, wenn das Bundesverfassungsgericht bestimmte Normauslegungen für grundgesetzwidrig erkläre oder die Zivilgerichte anhalte, bei der Anwendung / Auslegung zivilrechtlicher Regelungstatbestände die jeweils einschlägigen Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen. Hier habe der Vollstreckungstitel vom 10.01.2007 noch entscheidungserhebliche Grundrechtsinterpretationen zugrunde gelegt, die nach den sodann ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vom 13.06.2007 (ESRA) und 19.12.2007 (Nichtannahme der VerfB. der Klägerin im Essener Verfahren) zur Grundrechtskollision von postmortalem Persönlichkeitsrecht (Art. 1 I GG) und Kunstfreiheit (Art. 5 III GG) unvereinbar seien. Die genannten (neueren) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes hätten neue grundlegende Richtlinien zur Grundrechtsabgrenzung bei Bühnenstücken bzw. literarischen Werken mit fiktionalen Persönlichkeitsdarstellungen aufgestellt: Zur Relevanz fiktiv negativ verzerrender Darstellungen im Bereich der Kunst mit Blick auf das postmortale Persönlichkeitsrecht seien in der ESRA-Entscheidung neue Maßstäbe gesetzt worden, auch behandele die Nichtannahmeentscheidung vom Dezember 2007 erstmals die Reichweite des postmortalen Persönlichkeitsrechts Minderjähriger.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 16.09.2008 zugunsten des Bühnenverlages habe mit Blick auf das rechtskräftige Verbot zu Lasten der Klägerin neue, der Vollstreckung entgegen stehende Tatsachen geschaffen. Der Verlag könne nun erfolgreich alle Vollstreckungshandlungen der Beklagten bekämpfen, die der Aufführung entgegen stünden, was als neuer Umstand der Vollstreckung auch aus dem Titel vom 10.01.2007 entgegen stehe.

Schließlich rechtfertige mittlerweile der Zeitablauf den Fortfall des titulierten Unterlassungsanspruches. Die im Unterlassungstitel angesprochene zeitliche Komponente für das mögliche zukünftige Zurücktreten des postmortalen Persönlichkeitsrechtes müsse nunmehr im Lichte der geänderten Rechtsprechung (wie vor) neu beurteilt werden. So nähmen die in Deutschland zwischenzeitlich begangenen zahlreichen Ehrenmorde der beanstandeten Darstellung im Stück "F" die Singularität bezogen auf die Tochter der Beklagten.

Die Klägerin beantragt,

unter teilweiser Abänderung des Urteils des Landgerichts Hagen vom 13.05.2009 die Zwangsvollstreckung aus dem zwischen den Parteien ergangenen Urteil des Landgerichts Hagen vom 10.10.2007 – 8 O 212/06 – für unzulässig zu erklären.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie tritt der Berufung entgegen, indem sie sich der landgerichtlichen Begründung anschließt und darauf verweist, dass die Erinnerung an ihre ermordete Tochter nicht verblasst sei – zumal die Klägerin in ihren "Spielzeitheften" wie im Internet fortgesetzt auf die rechtlichen Auseinandersetzungen wegen der Aufführung des Stückes "F" hinweise.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen ergänzend Bezug genommen.
   

24

Der Senat hat die Prozessakten LG Hagen – 8 O 212/06 und 4 O 82/06 informationshalber beigezogen. Diese haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

II.

1. Die zulässige Vollstreckungsgegenklage der Klägerin gegen das durch Urteil des Landgerichts Hagen vom 10.01.2007 ausgesprochene Verbot einer Aufführung des Bühnenstücks "F" auf ihren städtischen Bühnen hat in der Sache Erfolg.

Die Klägerin kann dem titulierten Unterlassungsanspruch der Beklagten gemäß §§ 767 ZPO, 79 II BVerfGG Einwendungen entgegen halten, die auf Gründen beruhen, welche erst nach Schluss der seinerzeitigen mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht Hagen am 10.01.2007 entstanden sind. In Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung ist daher die Zwangsvollstreckung aus dem rechtskräftigen Verbotsurteil vom 10.01.2007 für unzulässig zu erklären.

Die zivilrechtliche Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO ist – wie insbesondere das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 06.12.2005 (BVerfGE 115, 51 ff.) grundlegend dargestellt hat – in erweiterter Anwendung des § 79 II BVerfGG auch im Falle geänderter verfassungsgerichtlicher Vorgaben für die Rechtsprechung der Zivilgerichte eröffnet. Zwar sieht die gesetzliche Regelung in § 79 II BVerfGG ihrem unmittelbaren Regelungsgehalt nach zunächst nur vor, dass die Zwangsvollstreckung aus nicht mehr anfechtbaren gerichtlichen Entscheidungen unzulässig ist (und dies entsprechend § 767 ZPO geltend gemacht werden kann), wenn die Gerichtsentscheidung auf einer nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruht. Nach der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 06.12.2005 (BVerfGE 115, 51 ff.) gilt dies jedoch u.a. dann analog, wenn das Bundesverfassungsgericht später eine der vollstreckbaren Gerichtsentscheidung zugrunde liegende Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt oder wenn es durch eine spätere verfassungsgerichtliche Entscheidung die Zivilgerichte anhält, bei der Auslegung und Anwendung von Generalklauseln und auslegungsbedürftigen Regelungstatbeständen die einschlägigen Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen, sofern es sich um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes handelt, die für die Auslegung des Zivilrechts über den Einzelfall hinausgehende Maßstäbe setzt (vgl. a. Schmidt-Bleibtreu u.a. – Bethge, BVerfGG-Kommentar, Stand: Mai 2009, § 79, Rdnr. 65).

Vorliegend kann die Berufung der Klägerin erfolgreich geltend machen, dass das zugunsten der jetzigen Beklagten vollstreckbare Verbotsurteil vom 10.01.2007 auf einer solchen Normauslegung durch das Landgericht Hagen beruht, die das Bundesverfassungsgericht zwischenzeitlich – d.h. nach Schluss der seinerzeitigen mündlichen Verhandlung, auf die das Verbot erging – erstmals für verfassungswidrig angesehen hat, so dass sich die (weitere) Zwangsvollstreckung aus diesem Urteil analog § 79 II BVerfGG als unzulässig erweist.

2. Das Landgericht Hagen hatte seinerzeit – entsprechend den Ausführungen des Senates im vorangegangenen Einstweiligen Verfügungsverfahren – einen Unterlassungsanspruch der damaligen Klägerin wegen Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechtes ihrer Tochter aus §§ 1004, 823 I BGB i.V.m. Art. 1 I GG bejaht (Seite 7 des U. v. 10.01.2007). Es hatte die Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechtes der Tochter aus Art. 1 I GG durch das Bühnenstück "F" deshalb angenommen, weil dieses Stück unter Überschreitung der Schranken der Kunstfreiheit aus Art. 5 III GG die Menschenwürde der verstorbenen Tochter der Klägerin verletze (Seiten 8 + 9 des U. v. 10.01.2007). Das Landgericht hatte sich dabei auf die "Grundsätze" der bis dahin existierenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfGE 30, 173; sog. MEPHISTO-Entscheidung) und deren Entsprechung in der höchstrichterlichen wie obergerichtlichen Rechtsprechung berufen. In die Menschenwürde einer verstorbenen Person werde – so die Begründung des Aufführungsverbotes damals – unzulässig eingegriffen, wenn das Lebensbild dieser Person, die dem künstlerisch dargestellten Geschehen erkennbar als Vorbild gedient habe, durch frei erfundene Zutaten grundlegend negativ dargestellt werde, ohne dass dies als satirische oder sonstige Übertreibung erkennbar sei.

Das Landgericht hatte für den Fall des Bühnenstücks "F" dabei die "Erkennbarkeit" der Tochter der Klägerin und der zu ihrem Gewalttod führenden Ereignisse bejaht (Seiten 9/10 des U. v. 10.01.2007). Es hatte sodann ausgeführt, dass das Bühnenstück durch "Konzentration auf das Negative der Persönlichkeit und Hinzufügung unwahrer Tatsachen das Lebensbild der Tochter entstellt habe", was ihre Menschenwürde (Wert- und Achtungsanspruch) verletze (Seite 11 d. U. v. 10.01.2007) und aufgrund der Wiederholungsgefahr das Unterlassungsbegehren rechtfertige.

Dass die so im Januar 2007 dem Verbot der Aufführung zugrunde liegende Annahme einer Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechtes durch das literarische Bühnenstück "F" auf einer verfassungswidrigen Normauslegung der Voraussetzungen des zivilrechtlichen Unterlassungsanspruches aus §§ 1004, 823 BGB analog beruhte, steht nach den zwischenzeitlichen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Nichtannahmebeschluss vom 19.12.2007 – 1 BvR 1533/07 – fest. Auf sie wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

Dem Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichtes (vgl. Juris – Ziff. 12) ist für den konkreten Fall mit Blick auf das postmortale Persönlichkeitsrechtes der Tochter der jetzigen Beklagten und auf das Bühnenstück "F" die Kernaussage zu entnehmen, dass "das postmortale Persönlichkeitsrechtsrecht der verstorbenen Tochter durch die Aufführung des Bühnenstücks nicht verletzt wird, weil dieses bei kunstspezifischer Betrachtung die Menschenwürde der Verstorbenen nicht antastet". Zu dieser konkreten Normauslegung ist das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich unter Hinweis auf "Maßstäbe" aus seiner eigenen Rechtsprechung gelangt, die es im Einzelnen dargestellt hat (vgl. Juris – Ziff. 9 – 11): Es bedürfe – so der Nichtannahmebeschluss – einer sorgfältigen Begründung, wenn angenommen werden solle, dass der Gebrauch eines Grundrechtes (hier Kunstfreiheit) auf die unantastbare Menschenwürde durchschlage. Zur Bewertung der Schwere einer etwaigen Persönlichkeitsrechtsverletzung durch ein Theaterstück bedürfe es einer kunstspezifischen Betrachtung, inwieweit dem Zuseher ein Wirklichkeitsbezug nahe gelegt werde. Zu beachten sei, ob und inwieweit das "Abbild" gegenüber dem "Urbild" verselbständigt erscheine. Ein literarisches Werk sei zunächst als Fiktion ohne Faktizitätsanspruch anzusehen; eine Vermutung für die Fiktionalität eines literarischen Werkes gelte auch dann, wenn hinter den Figuren reale Personen als Urbilder erkennbar seien.

Die Mutter der Getöteten mache – so das Bundesverfassungsgericht – dem Theaterstück "F" mit dem Vorwurf von Verzerrungen und unwahren Begebenheiten gerade dessen (zu vermutende) Fiktionalität zum Vorwurf. Die bloße Erkennbarkeit eines Vorbildes für ein literarisches Kunstwerk lege dem Zuschauer noch nicht nahe, alle Handlungen und Eigenschaften seien auch tatsächlich dieser Person zuzuschreiben. Es seien keine ausreichenden Anhaltspunkte vorgetragen, um die (zu vermutende) Fiktionalität des Theaterstücks "F" als widerlegt anzusehen. Die Menschenwürde der verstorbenen Tochter sei auch nicht durch die Schilderung sexueller Handlungen im Rahmen des Bühnenstücks angetastet; dem Zuseher stelle sich nämlich nicht die Frage als naheliegend, ob sich diese Teile des Werkes als Berichte über tatsächliche Ereignisse begreifen lassen. Der verstärke Persönlichkeitsrechtsschutz Minderjähriger sei schließlich für das postmortale Persönlichkeitsrecht ohne Belang.

Damit steht – entsprechend den Ausführungen im Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 19.12.2007 – die vom Landgericht Hagen dem am 10.01.2007 erlassenen Aufführungsverbot zugrunde gelegte Annahme einer Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechtes durch das Stück "F" mit der durch Art. 5 III GG gewährleisteten Kunstfreiheit nicht im Einklang.

3. Die nach alledem den Vollstreckungstitel vom 10.01.2007 tragende grundrechtswidrige Normauslegung berechtigt vorliegend in analoger Anwendung des § 79 II BVerfGG zu der nunmehrigen Vollstreckungsgegenklage der Titelschuldnerin, die in der Sache Erfolg hat; denn die Verfassungswidrigkeit der das Verbot tragenden Gesetzesauslegung ergab sich erstmals aus einer nicht nach § 767 II, III ZPO präkludierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, die für die Auslegung des Zivilrechts über den Einzelfall hinausgehende Maßstäbe setzte und die die Zivilgerichte in entscheidungsrelevanter Weise anhielt, bei der Auslegung und Anwendung von Generalklauseln und auslegungsbedürftigen Regelungstatbeständen die einschlägigen Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen.

a) Ob – wie die Berufung primär anführt – dem Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 19.12.2007 – 1 BvR 1533/07 analog § 79 II BVerfGG ein solcher späterer "maßstabsetzender Charakter" zukam, ist allerdings zweifelhaft – bedarf jedoch letztlich keiner Entscheidung des Senates.

Das Bundesverfassungsgericht hatte nämlich ausdrücklich angeführt (vgl. Juris – Ziff. 6), dass seinem Beschluss vom 19.12.2007 keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukomme, weil die wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt seien – was gegen einen "maßstabsetzenden Charakter" dieser verfassungsgerichtlichen Entscheidung spricht.

Auch dürfte der – bis zum Beschluss vom 19.12.2007 wohl noch nicht höchstrichterlich entschiedene – Gesichtspunkt (Juris – Ziff. 16), wonach der Aspekt des Minderjährigenschutzes beim postmortalen Persönlichkeitsrecht irrelevant sei, für die vollstreckbare Verbotsentscheidung vom 10.01.2007 kaum von ausschlaggebender Bedeutung gewesen sein.

b) Entscheidend ist vielmehr, dass bereits vor dem genannten Nichtannahmebeschluss vom Dezember 2007 und nach dem Erlass des mit der Vollstreckungsgegenklage angegangenen Verbotsurteils vom Januar 2007 die sog. ESRA-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 13.06.2007 diejenigen "maß-stabsetzenden verfassungsrechtlichen Auslegungsvorgaben" formulierte, aus denen sich erstmals die Verfassungswidrigkeit der Normauslegung des landgerichtlichen Verbotsurteil vom 10.01.2007 ergab.

Dies hat die die Vollstreckungsgegenklage zurückweisende Entscheidung des Landgerichts Hagen mit ihrem Hinweis auf die beim Aufführungsverbot vom Januar 2007 "zumindest" bekannten Abwägungsgrundsätze aus der sog. MEPHISTO-Entscheidung des Jahres 1971 verkannt. Denn die sog. ESRA-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 13.06.2007 hat gegenüber den bisherigen Rechtsprechungsgrundsätzen – seit der MEPHISTO-Entscheidung erstmals und entscheidend – die verfassungsrechtlich gebotenen Maßstäbe dafür weiter entwickelt, nach welchen Kriterien ein literarisches Kunstwerk mit Anknüpfung / Anlehnung an (vormals) existierende Personen in deren (postmortales) Persönlichkeitsrecht eingreift und wann es deshalb auch im Angesicht des Art. 5 III GG zivilrechtlich verboten werden darf. Gerade diese weitergehenden verfassungsgerichtlichen Auslegungsvorgaben der ESRA-Entscheidung begründeten die Grundrechtswidrigkeit der zum Aufführungsverbot vom 10.01.2007 gelangenden Entscheidung.

aa) So ergibt sich aus der konkreten Begründung des Nichtannahmebeschlusses vom Dezember 2007 (vgl. Juris-Ziffer 11 ff.), dass diejenigen "Maßstäbe", deren Anwendung das Bundesverfassungsgericht bezüglich des Theaterstücks "F" eine Persönlichkeitsrechtsverletzung zum Nachteil der getöteten Tochter der damaligen Beschwerdeführerin verneinen ließ, der ESRA-Entscheidung vom 13.06.2007 zu entnehmen sind.

Das Bundesverfassungsgericht hat zur Begründung des Vorrangs der für die Aufführung des Theaterstücks streitenden Kunstfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsrecht der Tochter der Beklagten insbesondere auf die in der ESRA-Entscheidung erstmals formulierte Vermutung für die Fiktionalität eines literarischen Werkes abgehoben; danach muss das literarische Werk zunächst als Fiktion ohne Faktizitätsanspruch angesehen werden – und zwar auch dann, wenn hinter den Figuren reale Personen als Vorbilder erkennbar sind. Lediglich zur Begründung dessen, dass – was die seinerzeitige Verfassungsbeschwerde der Beklagten betreffe – "die wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt" seien, hat das Bundesverfassungsgericht am 19.12.2007 neben der ESRA-Entscheidung vom 13.06.2007 noch die MEPHISTO-Entscheidung vom 24.02.1971 erwähnt (vgl. Juris-Ziffer 6). Im Ergebnis führte allerdings die in der ESRA-Entscheidung entwickelte Vermutung der Fiktionalität des Theaterstückes "F" – von der Mutter der Getöteten nicht widerlegt – in der Abwägung der betroffenen Grundrechte dazu, keine (postmortale) Persönlichkeitsrechtsverletzung zum Nachteil der Getöteten zu sehen.

bb) Dass die ESRA-Entscheidung vom Juni 2007 gegenüber der MEPHISTO-Entscheidung schließlich eine über den Einzelfall hinausgehende deutliche Fortentwicklung des Schutzes der über Art. 5 III GG gewährleisteten Kunstfreiheit für literarische Werke mit Blick auf mögliche Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigungen beinhaltete, indem sie die in der MEPHISTO-Entscheidung dargestellte Notwendigkeit einer kunstspezifischen Betrachtung bei der Abwägung der beteiligten Grundrechte neu durch eine "Vermutung der Fiktionalität" prägte, ergibt sich bereits aus den zu ihr ergangenen Sondervoten der abweichenden Verfassungsrichter. So führt etwa das Sondervotum des Richters y zu der ESRA-Entscheidung aus, diese trage der Kunstfreiheit stärker Raum als noch die MEPHISTO-Entscheidung. Zur Begründung dieser Bewertung der ESRA-Entscheidung heißt es in dem genannten Sondervotum weiter:

"Die Mephisto-Entscheidung forderte zwar bei der rechtlichen Bewertung der Wirkungen eines Kunstwerkes die Berücksichtigung kunstspezifischer Gesichtspunkte, ließ dies aber nicht hinreichend folgenreich werden. Insbesondere die jetzt vom Senat anerkannte Vermutung für die Fiktionalität eines literarischen Textes wurde nicht zugrunde gelegt. Der Senat macht jetzt ferner deutlich, dass die Erkennbarkeit einer Person im Roman selbst dann, wenn der Person negative Züge zugeschrieben werden, nicht als Grundlage einer

Persönlichkeitsrechtsverletzung ausreicht. Vielmehr muss unter Berücksichtigung der Vermutung der Fiktionalität nachgewiesen sein, dass der Autor dem Leser nahelegt, die tatsächlichen Ereignisse seien tatsächlich geschehen oder die dieser Person zugeschriebenen Eigenschaften kämen ihr tatsächlich zu."

Diesem Resümee zur Bedeutung der ESRA-Entscheidung mit Blick auf die bisherigen seit der MEPHISTO-Entscheidung angewendeten Abwägungsgrundsätze (wie sie noch dem Vollstreckungstitel vom Januar 2007 zugrunde lagen), schließt sich der erkennende Senat an. Bestätigt wird die mit der ESRA-Entscheidung eingeleitete wesentliche Fortentwicklung der verfassungsrechtlich gebotenen Auslegungsgrundsätze auch dadurch, dass der Beschluss vom 13.06.2007 explizit Begründungselemente aus den Sondervoten der "abweichenden Verfassungsrichter" bei der MEPHISTO-Entscheidung 1971 zur Begrenzung des Persönlichkeitsrechtes durch die Kunstfreiheit aufgegriffen hat (vgl. Juris – Ziff. 79 und 83). Nicht zuletzt schätzen auch veröffentlichte Entscheidungsrezensionen die besondere Bedeutung der ESRA-Entscheidung aus dem Juni 2007 dahin ein, dass sie für die Bewertung von Verletzungen des postmortalen Persönlichkeitsrechtes durch literarische Kunstanlehnungen gegenüber der MEPHISTO-Entscheidung von 1971 eine "deutliche Verschiebung" bedeutet (so: Obergfeil, ZUM 2007, 910 ff.) bzw. "eine erhebliche Präzisierung" beinhaltet (so: Neumeyer, AfP 2007, 509, 513).

cc) Weil nach alledem die vom Bundesverfassungsgericht in der ESRA-Entscheidung mit Blick auf die Kunstfreiheitsgarantie weitergehend und erstmals formulierten interpretationsleitenden Vorgaben (insbesondere die Vermutung der Fiktionalität) dazu führen, dass in der Beurteilung des zivilrechtlichen Unterlassungsverlangens eine Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechtes der Tochter der Titelgläubigerin durch das Theaterstück "F" – anders als noch im Vollstreckungstitel vom 10.01.2007 – zu verneinen ist, haben die Berufung und die mit ihr weiter verfolgte Vollstreckungsgegenklage der rechtskräftig zur Unterlassung verurteilten Klägerin nach §§ 767 ZPO, 79 II BVerfGG Erfolg.

4. Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91, 708 Ziff. 10, 713 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Weder die Rechtsfortbildung noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Revisionsgerichtes.

Vorinstanz: LG Hagen, Az.: 2 O 17/09

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