Deutsche Arzneimittelpreisbindung trotz entgegenstehendem EuGH-Urteil verfassungsrechtlich unbedenklich

18. Januar 2018
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Tabletten und Geldschein in Hand vor Tastatur Urteil des OLG Frankfurt a. M. vom 02.11.2017, Az.: 6 U 164/16

Die Arzneimittelpreisbindung ist verfassungsrechtlich bedenklich, wenn sie zu einem erhöhten Marktanteil ausländischer Versandapotheken im Bereich verschreibungspflichtiger Arzneimittel und damit zu einer ernsthaften Existenzbedrohung der inländischen Präsenzapotheken führt. Dann verstößt die Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel möglicherweise gegen das Verbot der Inländerdiskriminierung. Ein Gutschein verstößt auch gegen die Arzneimittelpreisbindung, wenn er nicht auf einen bestimmte Geldbetrag, sondern auf einen Sachwert lautet.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main

Urteil vom 02.11.2017

Az.: 6 U 164/16

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das am 10.06.2016 verkündete Urteil der 3. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Darmstadt wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 35.000,00 € abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.

Die Parteien streiten über die Zugabe von Gutscheinen beim Verkauf rezeptpflichtiger Arzneimittel.

Die Beklagte betreibt eine Apotheke in O1. Sie händigte am 08.09.2014 einem Kunden anlässlich des Erwerbs eines rezeptpflichtigen und preisgebundenen Arzneimittels ungefragt einen „Brötchen-Gutschein“ über „2 Wasserweck oder 1 Ofenkrusti“ aus (Anlage K4). Der Gutschein konnte bei einer bestimmten, in der Nähe der Apotheke gelegenen Bäckerei eingelöst werden.

Die Klägerin, ein gewerblicher Interessenverband, sieht in der Gutscheinabgabe einen Verstoß gegen die Arzneimittelpreisbindung. Nach erfolgloser Abmahnung hat sie mit Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 04.12.2014 (Az. 19 O 327/14, Anlage K7) eine einstweilige Verfügung erwirkt. Der Senat hat die Berufung gegen das im einstweiligen verfügungsverfahren ergangene Urteil mit Beschluss vom 02.04.2015 zurückgewiesen (Az. 6 U 17/15, Anlage K9; WRP 2015, 759).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und der erstinstanzlich gestellten Anträge wird auf das angegriffene Urteil des Landgerichts Darmstadt Bezug genommen (§ 540 I Nr. 1 ZPO).

Das Landgericht hat die Beklagte am 10.06.2016 verurteilt, es bei Meidung des gesetzlichen Ordnungsmittel zu unterlassen, geschäftlich handelnd den Verkauf rezeptpflichtiger, preisgebundener Arzneimittel mit der kostenfreien Abgabe eines Brötchen-Gutscheins zu verknüpfen. Gegen diese Beurteilung wendet sich die Beklagte mit der Berufung. Im Berufungsrechtszug wiederholen und vertiefen die Parteien ihr Vorbringen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 10.06.2016 (Az.: 14 O 186/15) aufzuheben und die darauf gerichtete Klage zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg.

1. Der Unterlassungsantrag ist hinreichend bestimmt (§ 253 II Nr. 2 ZPO). Ein Verbotsantrag darf nicht derart undeutlich gefasst sein, dass Gegenstand und Umfang der Entscheidungsbefugnis des Gerichts nicht erkennbar abgegrenzt sind, sich der Beklagte deshalb nicht erschöpfend verteidigen kann und letztlich die Entscheidung darüber, was dem Beklagten verboten ist, dem Vollstreckungsgericht überlassen bleibt (vgl. BGH GRUR 2016, 395 [BGH 17.09.2015 – I ZR 92/14] Rn. 13 – Smartphone-Werbung m.w.N.). Der Klageantrag und das darauf beruhende Verbot des Landgerichts sind zwar nicht auf die konkrete Verletzungsform in Gestalt des ausgegebenen Brötchengutscheins beschränkt (Anlage K4). Die Formulierung „kostenfreie Abgabe eines Brötchen-Gutscheins“ stellt jedoch eine zulässige Verallgemeinerung dar, die über den Kernbereich der konkreten Verletzungsform nicht hinausgeht. Auch der Begriff des „rezeptpflichtigen, preisgebundenen Arzneimittels“ ist hinreichend konkret, um den Verbotsumfang deutlich abzugrenzen.

2. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Unterlassung der kostenfreien Zugabe eines Brötchen-Gutscheins aus §§ 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2, 3 Abs. 1, 3a UWG (§ 4 Nr. 11 UWG aF) in Verbindung mit § 78 Abs. 2 Satz 2 und 3, Abs. 3 Satz 1 AMG.

a) Nach § 78 II S. 2, 3 AMG ist für verschreibungspflichtige Arzneimittelein einheitlicher Apothekenabgabepreis zu gewährleisten, der nach Maßgabe der Arzneimittelpreisverordnung (§ 3 AMPreisV) festgelegt wird. Die Vorschriften bezwecken, den Preiswettbewerb unter den Apotheken zu regeln (BGH GRUR 2017, 635 [BGH 24.11.2016 – I ZR 163/15], Rn. 16 – Freunde werben Freunde m.w.N.). Ein Verstoß gegen die arzneimittelrechtliche Preisbindung liegt nicht nur dann vor, wenn der Apotheker ein preisgebundenes Arzneimittel zu einem niedrigeren Preis abgibt. Die Bestimmungen der Arzneimittelpreisverordnung werden vielmehr auch dann verletzt, wenn für das preisgebundene Arzneimittel zwar der korrekte Preis angesetzt wird, dem Kunden aber gekoppelt mit dem Erwerb des Arzneimittels Vorteile gewährt werden, die den Erwerb für ihn wirtschaftlich günstiger erscheinen lassen und daher geeignet sind, den vom Gesetzgeber nicht erwünschten Preiswettbewerb in diesem Bereich zu beeinflussen (vgl. BGH GRUR 2010, 1138 [BGH 09.09.2010 – I ZR 193/07], Rn. 17 – UNSER DANKESCHÖN FÜR SIE).

b) Die Bestimmungen der § 78 Abs. 2 Satz 2 und 3, Abs. 3 Satz 1 AMG, § 1 Abs. 1 und 4, § 3 AMPreisV stellen Marktverhaltensregelungen i.S. des § 3a UWG (§ 4 Nr. 11 UWG aF) dar (BGH GRUR 2010, 1138 [BGH 09.09.2010 – I ZR 193/07], Rn. 22 – UNSER DANKESCHÖN FÜR SIE).

c) Die Beklagte hat gegen die vorstehend beschriebenen Merkmale der arzneimittelpreisrechtlichen Bestimmungen verstoßen. Sie hat einem Kunden anlässlich des Erwerbs eines rezeptpflichtigen und preisgebundenen Arzneimittels einen Brötchen-Gutschein über „2 Wasserweck oder 1 Ofenkrusti“ ausgehändigt, der bei einer bestimmten, in der Nähe der Apotheke der Beklagten gelegenen Bäckerei eingelöst werden konnte. Sie hat damit einen Vorteil gewährt, der den Erwerb des Arzneimittels wirtschaftlich günstiger erscheinen lässt. Denn nach der Lebenserfahrung können – gerade wenn der Abgabepreis in allen Apotheken identisch ist – auch Zuwendungen von geringem Wert den Kunden veranlassen, bei nächster Gelegenheit ein preisgebundenes Arzneimittel in der Hoffnung auf weitere Vergünstigungen wieder in der gleichen Apotheke zu erwerben (vgl. Senat, Urt. v. 5.6.2007 – 6 U 118/07, Rn. 22 – juris).

aa) Entgegen der Ansicht der Beklagten spielt es keine Rolle, dass der ausgegebene Gutschein nicht auf einen bestimmten Geldbetrag lautete, sondern auf einen Sachwert. Der BGH hat zwar „insbesondere“ in einem auf einen bestimmten Geldbetrag lautenden Gutschein einen Vorteil gesehen, jedoch insoweit ersichtlich keine abschließende Bewertung vorgenommen (vgl. BGH GRUR 2010, 1138 [BGH 09.09.2010 – I ZR 193/07], Rn. 18 – UNSER DANKESCHÖN FÜR SIE). Es kommt entscheidend darauf an, ob der gewährte Vorteil nach der Verkehrsauffassung den Erwerb des Arzneimittels bei der fraglichen Apotheke wirtschaftlich günstiger erscheinen lässt. Dies ist bei einem Brötchengutschein unzweifelhaft der Fall. Die Auslobung eines ansprechenden Sachwerts auf dem Gutschein stellt aus Kundensicht sogar einen stärkeren Anreiz dar als ein Gutschein, der auf einen entsprechenden Cent-Betrag lautet und nicht sogleich erkennen lässt, was sich dafür erwerben lässt. Sofern die Sachangabe für den Kunden einen wirtschaftlichen Wert hat und an den Erwerb des Arzneimittels gekoppelt ist und nicht nur – wie etwa die Überlassung eines Traubenzuckers oder einer Packung Taschentücher – als Ausdruck von Kundenfreundlichkeit aufgefasst wird (vgl. dazu auch OVG NRW, Urt. v. 08.09.2017 – 13 A 2979/15, Rn. 65 – juris), unterläuft die Apotheke damit in gleicher Weise die Preisbindung.

bb) Es kommt entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht entscheidend darauf an, ob die Art des ausgelobten Sachwerts (hier: Brötchen) geeignet erscheint, den Kunden zum Sammeln mehrerer Gutscheine zu verleiten. Auch ohne Sammeleffekt lässt der Gutschein den Kauf bei der Apotheke der Beklagten jedenfalls günstiger erscheinen.

cc) Der dargestellten arzneimittelpreisrechtlichen Beurteilung steht auch die Regelung des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 HWG nicht entgegen.

Nach der bis zum 12.08.2013 geltenden Gesetzesfassung des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 HWG war es unzulässig, Zuwendungen und sonstige Werbegaben (Waren oder Leistungen) zu gewähren, es sei denn, dass es sich um geringwertige Kleinigkeiten handelt. Diese „Spürbarkeitsschwelle“ wurde von der Rechtsprechung aus Gründen der Einheit der Rechtsordnung trotz unterschiedlicher Zielrichtungen des Arzneimittelpreisrechts und des Heilmittelwerberechts auf das Arzneimittelpreisrecht übertragen. Zuwendungen im Wert von bis zu 1,- € wurden als nicht spürbar angesehen (vgl. BGH GRUR 2013, 1264 [BGH 08.05.2013 – I ZR 98/12], Rn. 20 – RezeptBonus). Der Gesetzgeber hat unter Bezugnahme auf diese Rechtsprechung (vgl. BT-Drucks. 17/13770, S. 20 f.) durch Gesetz vom 07.08.2013 mit Wirkung vom 13.08.2013 die Bestimmung des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HWGausdrücklich um die Regelung ergänzt: „Zuwendungen oder Werbeabgaben sind für Arzneimittel unzulässig, soweit sie entgegen den Preisvorschriften gewährt werden, die auf Grund des Arzneimittelgesetzes gelten“. Damit ist für eine an der heilmittelwerberechtlichen Spürbarkeitsschwelle orientierte Eingriffsschwelle kein Raum mehr (vgl. Senat WRP 2015, 759; OVG Lüneburg, Beschl. v. 2.8.2017 – 13 ME 122/17, Rn. 22 – juris). Ausdrücklich sollen auch Werbegaben in Form von geringwertigen Kleinigkeiten unzulässig sein (BT-Drucks. 17/13770, S. 21). Es erschließt sich vor diesem Hintergrund nicht, wieso die Beklagte meint, die Gesetzesänderung habe keine Auswirkung auf die Abgabe von Sachzugaben (Bl. 297 d.A.). Aus dem Passus in der Gesetzesbegründung, wonach keine Differenzierung von Barrabatten und „geldwerten Rabatten“ gerechtfertigt ist, die zu einem späteren Zeitpunkt eingelöst werden, lässt sich eine Beschränkung auf Rabattgutscheine nicht schließen. Es sollte vielmehr erreicht werden, dass der Verbraucher in keinem Fall durch die Aussicht auf Zugaben unsachlich beeinflusst wird. Daher liegt in der Abgabe geringwertiger Kleinigkeiten, die entgegen den arzneimittelrechtlichen Preisvorschriften erfolgt, zugleich ein Verstoß gegen § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HWG (vgl. BGH GRUR 2017, 635 [BGH 24.11.2016 – I ZR 163/15], Rn. 17 – Freunde werben Freunde).

d) Zu Unrecht meint die Beklagte, die maßgeblichen Bestimmungen des § 78 AMG seien mit der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 AEUV nicht vereinbar. Die Beklagte beruft sich insoweit auf die Entscheidung des EuGH vom 19.10.2016 – „DocMorris/Deutsche Parkinson Vereinigung“. Danach stellt eine nationale Regelung, die vorsieht, dass für verschreibungspflichtige Humanarzneimittel einheitliche Apothekenabgabepreise festgesetzt werden, eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Art. 34 AEUV dar, da sie sich auf die Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel durch in anderen Mitgliedstaaten ansässige (Versand-)Apotheken stärker auswirkt als auf die Abgabe solcher Arzneimittel durch im Inland ansässige Apotheken (EuGH, Urt. v. 19.10.2016 – C-148/15, Rn. 27 – juris). Damit ist jedoch weder die Wirksamkeit des § 78 AMG berührt, noch dessen Anwendbarkeit grundsätzlich ausgeschlossen. Nach der jüngeren Rechtsprechung des BGH (GRUR 2017, 635 – Freunde werben Freunde) hat bei Sachverhalten mit grenzüberschreitendem Warenverkehr das nationale Gericht vielmehr zu prüfen und gegebenenfalls durch Einholung einer amtlichen Auskunft bei der Bundesregierung zu ermitteln, ob – abweichend von der Einschätzung des EuGH in der genannten Entscheidung – genügend Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass die Vorschrift ein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel darstellt, um ihren auf den Gesundheitsschutz gerichteten Zweck zu erfüllen, der nach Art. 36 eine Ausnahme vom Grundsatz des freien Warenverkehrs rechtfertigen kann (BGH a.a.O., Rn. 49); sollte das nationale Gericht dies bejahen, wäre ein erneutes Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten (BGH a.a.O. Rn. 43). Im Streitfall bedarf es solcher Feststellungen nicht. Die EuGH-Entscheidung berührt nicht die Wirksamkeit und Anwendbarkeit der Bestimmung des § 78 AMG, die nicht auf EU-Recht beruht, auf den innerdeutschen Verkauf von Arzneimitteln (OVG Lüneburg, Beschl. v. 2.8.2017 – 13 ME 122/17, Rn. 22 – juris). Die Beklagte betreibt eine stationäre Apotheke in Darmstadt. Die Warenverkehrsfreiheit ist insoweit nicht betroffen.

e) Die arzneimittelpreisrechtlichen Regelungen sind auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen unwirksam oder restriktiv auszulegen. Die Beklagte beruft sich in diesem Zusammenhang darauf, die EuGH-Rechtsprechung führe zu einer Inländerdiskriminierung. Denn nunmehr könnten allein ausländische Versandapotheken mit Rabatten um Kunden werben. Die Preisbindung sei damit zur Erreichung der angestrebten Zwecke nicht mehr geeignet oder jedenfalls unverhältnismäßig geworden.

aa) Die EuGH-Entscheidung vom 19.10.2016 ist zwar erst nach der streitgegenständlichen Verletzungshandlung ergangen. Der in die Zukunft gerichtete Unterlassungsanspruch kann jedoch nur dann zugesprochen werden, wenn das beanstandete Verhalten noch zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung rechtswidrig ist.

bb) Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Arzneimittelpreisregulierung mit Art. 12 Abs. 1 GG und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar (vgl. BVerfG, Beschl. v. 2.2.2017 – 2 BvR 787/16 -Rn. 30, juris; ebenso OVG NRW, Urt. v. 08.09.2017 – 13 A 2979/15, Rn. 73 ff. – juris). Die Bestimmungen des § 78 Abs. 1 und 2 AMG und die auf ihnen beruhende Arzneimittelpreisverordnung stellen einen gesetzlichen Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung der Apotheker dar, indem sie einen einheitlichen Apothekenabgabepreis vorsehen. Berufsausübungsregelungen dürfen vom Gesetzgeber getroffen werden, wenn sie durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sind, die gewählten Mittel zur Erreichung des verfolgten Zweckes geeignet und erforderlich sind und die durch sie bewirkte Beschränkung den Betroffenen zumutbar ist. Die Arzneimittelpreisbindung ist durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt. Durch den einheitlichen Apothekenabgabepreis soll im Hinblick auf die Beratungsfunktion der Apotheken ein Preiswettbewerb auf der Handelsstufe der Apotheken ausgeschlossen oder jedenfalls vermindert werden. Insbesondere in unattraktiven Lagen sollen sich Apotheken keinen ruinösen Preiskampf liefern. Dadurch soll im öffentlichen Interesse die gebotene flächendeckende und gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln sichergestellt werden. Zudem soll die Regelung dazu dienen, das finanzielle Gleichgewicht des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung abzusichern (vgl. Beschl. v. 22.8.2012 – GmS-OGB 1/10, Rn. 25 – juris).

cc) Zweifel an der Geeignetheit der Regelungen für die angestrebten Zwecke und an der Verhältnismäßigkeit würden sich allerdings dann ergeben, wenn der Gesetzeszweck in Folge der Rechtsprechung des EuGH durch die Tätigkeit ausländischer Versandhandelsapotheken unterlaufen würde. Dies wäre der Fall, wenn Versandhandelsapotheken rezeptpflichte Arzneimittel ohne Rücksicht auf die Preisbindung in einem solchen Umfang auf den inländischen Markt bringen würden, dass eine ernsthafte Existenzbedrohung inländischer Präsenzapotheken eintreten würde und das finanzielle Gleichgewicht des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr gewährleistet wäre. Es fehlt an ausreichenden Anhaltspunkten dafür, dass derart weitreichende Folgen zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind. Hierfür ist die Beklagte darlegungs- und beweispflichtig.

(1) Die Beklagte hat dargelegt, ausländische Versandapotheken hätten damit begonnen, für die Einlösung von Rezepten massiv zu werben, und versprächen Rabatte von bis zu 30 € pro Verschreibung (Anlagen BK2-BK5). Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass durch derartige Werbebemühungen erhebliche Kundenanreize geschaffen werden. Sie reichen jedoch nicht aus, um bereits den Eintritt ernsthafter Marktverschiebungen zu begründen. Es kann nicht ohne weiteres angenommen werden, dass Verbraucher, die es seit jeher gewohnt sind, Apotheken aufzusuchen und dort auch beraten zu werden, allein wegen der Rabatte zu Versandapotheken wechseln werden. Im Übrigen ist jedenfalls eine Akutversorgung im Wege des Versandhandels wegen der damit verbundenen Lieferfristen regelmäßig nicht möglich (vgl. OVG NRW a.a.O., Rn. 146). In welchem Umfang es zu Marktverschiebungen kommen wird, lässt sich deshalb nicht allein aus den Werbemaßnahmen des Versandhandels ableiten. Eine Existenzbedrohung lässt sich auch nicht aus dem vorgelegten Pressebericht vom 21.10.2016 ableiten (Anlage BK6). Dort heißt es, die Internetseiten der beiden größten Versandapotheken seien, seit mit Rabatten geworben werde, zeitweise wegen der vielen Zugriffe nicht erreichbar gewesen. Es sei die achtfache Zahl von Kundenanfragen wie sonst üblich zu verzeichnen. Diese Umstände sprechen zwar für eine erhöhte Nachfrage nach den rabattierten Arzneimitteln. Sie sagen jedoch nichts über den Anteil des Versandhandels am Gesamtvolumen rezeptpflichtiger Arzneimittel aus. Spürbare oder gar existenzbedrohende Verschiebungen der Nachfrage lassen sich diesen Umständen nicht entnehmen. Dies gilt auch für die Teilnahme einiger Apotheken an dem Konzept „Vorteil 24“. Dabei bestellen Präsenzapotheken rezeptpflichtige Arzneimittel in den Niederlanden oder in Ungarn, die dann über Abholstellen (z.B. Drogerien) an Patienten abgegeben werden (Anlage BK7-BK9). Auf diese Weise lässt sich die Preisbindung umgehen. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass diese Praxis ein Ausmaß angenommen hat, das den gesetzgeberischen Zweck der Preisbindung weitgehend leerlaufen lassen würde. Das gleiche gilt für den Umstand, dass der BGH den Anwendungsbereich des Arzneimittelpreisrechts für Arzneimittel, die in patientenindividuellen Arzneimittelblistern abgegeben werden, für nicht anwendbar erklärt hat. Die Schätzung der Beklagten, diese besondere Form der Arzneimittelabgabe dürfte 50% des Arzneimittelbedarfs betreffen (Bl. 313 d.A.), wurde in keiner Weise substantiiert oder durch Unterlagen untermauert.

(2) Entgegen der Ansicht der Beklagten sprechen auch die vorlegten Artikel aus der Deutschen Apothekenzeitung nicht für „massive Verwerfungen“ zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Anlage BK12). Vielmehr ließ der Vize-Chef des GKV-Spitzenverbandes dort wissen, er gehe davon aus, dass die Vor-Ort-Apotheke auch künftig eine wichtige Rolle bei der Versorgung mit Arzneimitteln spielen werde. Auch der Umstand, dass die Versandhandelsapotheke DocMorris ihren Umsatz im ersten Quartal 2017 um 17% erhöht haben soll, ist für die Marktverhältnisse insgesamt nicht hinreichend aussagekräftig (Anlage BK13).

(3) Die Beklagte hat außerdem ein von der Apothekengenossenschaft in Auftrag gegebenes Gutachten zum Thema „Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel“ vom 03.08.2017 vorgelegt (Anlage BK 14). Das Gutachten untersucht u.a. Abwanderungsprozesse bzw. Marktanteilsverluste der deutschen Apotheken in Folge der EuGH-Rechtsprechung. Es wurden verschiedene Szenarien berechnet, die von Marktanteilen des Versandhandels von 9%, 17% oder 25% ausgehen. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass bereits bei einem Marktanteil von 9% ein Schließungsrisiko von sog. Solitär-Apotheken besteht, also solchen mit regionaler Alleinstellung, die über ein vergleichsweise geringes Umsatzvolumen verfügen. Im Falle der Zulassung des Preiswettbewerbs würden damit zahlreiche Apotheken vom Markt verdrängt (GA S. 107, 110). Unterstellt man die Richtigkeit der Untersuchung, ist damit jedenfalls nicht gesagt, dass es gegenwärtig bereits zu einer Verdrängung gekommen ist oder diese unmittelbar bevorsteht. Es steht auch nicht fest, dass die Modellannahmen tatsächlich eintreten. Sie beruhen im Wesentlichen auf Prognosen, die Umfrageergebnisse und die Versandgeeignetheit bestimmter Produkte berücksichtigen (GA S. 66-73). Der Eintritt der Annahmen ist somit nicht gesichert. So erscheint es z.B. wenig überraschend, dass 46% bzw. 50% der befragten Kunden bei einer Umfrage spontan gesagt haben, günstigere Preise oder auch moderate Boni seien für sie ein Grund, Medikamente im Internet zu bestellen. Über den Umfang tatsächlicher Abwanderungen sagt dies nicht viel aus. Ebenso unsicher ist, wie sich Steuerungsanreize einzelner gesetzlicher Krankenkassen in Richtung des Versandhandels auswirken werden (Anlage BK16-22).

(4) Die Klägerin bestreitet, dass in Folge der EuGH-Entscheidung das gesetzgeberische Ziel der flächendeckenden Versorgung durch die Preisbindung nicht mehr erreicht werden kann. Sie schließt sich der Auffassung des OVG Lüneburg in der Entscheidung v. 02.08.2017 – 13 ME 122/17 „einschränkungslos“ an (Bl. 498 d.A.). Nach den Feststellungen des OVG Lüneburg lag der Umsatzanteil ausländischer Versandapotheken an rezeptpflichtigen Arzneimitteln unverändert bei lediglich etwa 0,6%. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat sich die Klägerin ausdrücklich auf diesen Marktanteil bezogen. Aus einem derart geringfügigen Anteil könnte in der Tat nicht auf eine Aushebelung der Regelungen der Arzneimittelpreisbindung durch ausländische Konkurrenten und in der Folge auf eine wirtschaftlich spürbare Beeinträchtigung der in Deutschland ansässigen Apotheken geschlossen werden. Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestritten, dass der Marktanteil in der Zeit nach der EuGH-Entscheidung weiterhin bei 0,6% gelegen habe. Konkrete Anhaltspunkte für den gegenwärtigen Marktanteil konnte sie jedoch nicht mitteilen. Sie hat ausdrücklich erklärt, insoweit lägen ihres Wissens keine genauen Erkenntnisse vor. Dem angebotenen Beweisantritt durch ein Sachverständigengutachten war nicht nachzugehen. Er liefe auf eine unzulässige Ausforschung hinaus. Die Beklagte hat zum gegenwärtigen Marktanteil des ausländischen Versandhandels keine konkreten Behauptungen aufstellt.

d) Auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG infolge der Inländerdiskriminierung kann bei dieser Sachlage zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht angenommen werden. Zweifel bestehen schon an einer Ungleichbehandlung i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG. Der nationale Gesetzgeber ist grundsätzlich nur verpflichtet, den Gleichheitssatz innerhalb seines Herrschaftsgebiets zu wahren (vgl. OVG NRW, Urt. v. 08.09.2017 – 13 A 2979/15, Rn. 108 – juris). Faktisch liegt allerdings eine Ungleichbehandlung zwischen Apothekern mit Sitz in Deutschland und Apothekern mit Sitz im EU-Ausland vor, sofern diese Kunden in Deutschland beliefern. Während erstere der Arzneimittelpreisbindung unterliegen, gilt diese für letztere aufgrund der Entscheidung des EuGH vom 19.10.2016 nicht. Diese Ungleichbehandlung beruht jedoch auf einem sachlichen Grund. Er liegt in der Tatsache begründet, dass der nationale Gesetzgeber in seiner Gestaltungsfreiheit beim grenzüberschreitenden Verkauf von Arzneimitteln durch europäisches Primärrecht (Warenverkehrsfreiheit) in dessen Auslegung durch den EuGH gebunden ist, während dies beim Verkauf innerhalb Deutschlands nicht der Fall ist (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 2.8.2017 – 13 ME 122/17, Rn. 18 – juris; BVerfG, Beschl. v. 4.2.2010 – 1 BvR 2514/09 -, juris Rn. 16). Zudem ist mit dem EuGH davon auszugehen, dass sich die Arzneimittelpreisbindung auf in anderen Mitgliedstaaten ansässige Apotheken stärker auswirkt. Ihnen ist der Marktzugang erschwert, da sie nicht auf bestehende Präsenzapotheken zurückgreifen und Kundenbindungen durch persönliche Beratung aufbauen können (vgl. EuGH, Urt. v. 19.10.2016, a.a.O., Rn. 24 ff.). Insofern erscheint eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt.

3. Der von der Klägerin vorsorglich beantragte Schriftsatznachlass war nicht zu gewähren. Die beiden zuletzt eingereichten Schriftsätze der Gegenseite vom 18.10.2017 und vom 24.10.2017 enthielten kein neues Vorbringen, das entscheidungserheblich war.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

5. Die Revision war zuzulassen (§ 543 II Nr. 1 ZPO). Die Frage der Inländerdiskriminierung in Folge der Rechtsprechung des EuGH zur Arzneimittelpreisbindung hat grundsätzliche Bedeutung.

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