Werbung von gesundheitsschädlichen Reinigungsprodukten ohne entsprechende Kennzeichnung ist irreführend
Oberlandesgericht Frankfurt am Main
Urteil vom 07.07.2016
Az.: 6 U 227/15
Tenor
Die Berufung der Antragsgegnerin gegen das am 28.10.2015 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor unter Buchstaben c) und d) der Beschlussverfügung des Landgerichts vom 17.8.2015 wie folgt neugefasst wird:
c)
im geschäftlichen Verkehr ihre Produkte „Milizid“ und/oder „Milizid Tropical“ und/oder „Milizid Mint“ und/oder „Milizid Cool Breeze“ und/oder „Milizid Citro“ anzubieten oder anbieten zu lassen, ohne dabei auf den jeweiligen Produktetiketten Warnhinweise in Bezug auf die mit diesen Produkten verbundenen Gesundheitsgefahren anzubringen, wenn dies geschieht wie auf den in Anlage AS 14 und AS 30 abgebildeten Etiketten;
und/oder
d)
im geschäftlichen Verkehr Sicherheitsdatenblätter für ihre Produkte „Milizid“ und/oder „Milizid Tropical“ und/oder „Milizid Mint“ und/oder „Milizid Cool Breeze“ und/oder „Milizid Citro“ Marktteilnehmern zur Verfügung zu stellen oder zur Verfügung stellen zu lassen, ohne dabei in Abschnitt 2 des jeweiligen Sicherheitsdatenblattes die mit „Milizid“, „Milizid Tropical“, „Milizid Mint“, „Milizid Cool Breeze“ bzw. mit „Milizid Citro“ verbundenen Gesundheitsgefahren zu beschreiben und Warnhinweise im Zusammenhang mit diesen Gefahren anzugeben, wenn dies geschieht wie in den als Anlagen AS 4 – AS 8 beigefügten Sicherheitsdatenblättern für die genannten Reinigungsmittel.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens beider Instanzen zu tragen.
Das Urteil ist rechtskräftig.
Entscheidungsgründe
I.
Die Parteien streiten über die Kennzeichnungspflicht eines Reinigungsmittels mit Warnhinweisen nach der CLP-Verordnung.
Beide Parteien sind Wettbewerber im Bereich der gewerblichen und industriellen Reinigung und Hygiene. Die Antragsgegnerin stellt die Reinigungsprodukte „Milizid“, „Milizid Tropical“, „Milizid Mint“, „Milizid Cool Breeze“ und „Milizid Citro“ her. Sie bewirbt ihre Produkte mit der Aussage, sie seien nach der CLP-Verordnung kennzeichnungsfrei. Sie veräußert die Produkte ohne Hinweis auf die Gefahr von Haut- oder Augenschädigungen auf den Etiketten. Zu den genannten Produkten stellt sie im Internet Sicherheitsdatenblätter zur Verfügung. Darin heißt es, die Gemische würden als nicht gefährlich eingestuft im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 [CLP]. Die Milizid-Produkte haben einen pH-Wert von 0,5 und weisen jeweils mehr als 3% Sulfamidsäure/ Amidosulfonsäure auf.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil des Landgerichts Frankfurt verwiesen.
Auf Antrag der Antragstellerin hat das Landgericht Frankfurt der Antragsgegnerin mit einstweiliger Verfügung vom 17.8.2015 untersagt,
a) im geschäftlichen Verkehr ihre Produkte „Milizid“ und/oder „Milizid Tropical“ und/oder „Milizid Mint“ und/oder „Milizid Cool Breeze“ und/oder „Milizid Citro“ mit den Behauptungen
aa) „Hinweis zur Kennzeichnung
Einstufung gemäß EG-Verordnung 1272/2008 (CLP): Das Gemisch ist als nicht gefährlich eingestuft im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 [CLP].“
und/oder
bb) „kennzeichnungsfrei“, insbesondere wenn dies geschieht wie in Anlage AS 1,
zu bewerben,
und / oder
b) im geschäftlichen Verkehr ihr Produkt „Milizid“ mit den Angaben
aa) „Das original Milizid: Kennzeichnungsfrei!“,
insbesondere wenn dies geschieht wie in Anlage AS 2,
und/oder
bb) „Von unabhängigen Gutachtern bewiesen“ Milizid ist auch nach CLP-Verordnung kennzeichnungsfrei“,
insbesondere wenn dies geschieht wie in Anlage AS 2,
und/oder
cc) „Milizid mit Sicherheit kennzeichnungsfrei
Auch im Rahmen der neuen CLP-Verordnung bleibt das Original Milizid kennzeichnungsfrei — und damit unverändert! (….)
Für alle Anwender von Milizid heißt das: Milizid bleibt unverändert kennzeichnungsfrei bei bekannt maximaler Leistungsfähigkeit.“,
insbesondere wenn dies geschieht wie in Anlage AS 3,
zu bewerben
und/oder
dd) im geschäftlichen Verkehr ihr Produkt „Milizid“ mit durchgestrichenen Gefahrenhinweisen, wie nachfolgend eingeblendet
zu bewerben,
und/oder
c) im geschäftlichen Verkehr ihre Produkte „Milizid“ und/oder „Milizid Tropical“ und/oder „Milizid Mint“ und/oder „Milizid Cool Breeze“ und/oder „Milizid Citro“ anzubieten oder anbieten zu lassen, ohne dabei auf den jeweiligen Produktetiketten geeignete, sich aus der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 (CLP-Verordnung) ergebende und geforderte, Warnhinweise in Bezug auf die mit diesen Produkten verbundenen Gefahren anzubringen,
und/oder
d) im geschäftlichen Verkehr Sicherheitsdatenblätter für ihre Produkte „Milizid“ und/oder „Milizid Tropical“ und/oder „Milizid Mint“ und/oder „Milizid Cool Breeze“ und/oder „Milizid Citro“ Marktteilnehmern zur Verfügung zu stellen oder zur Verfügung stellen zu lassen, ohne dabei in Abschnitt 2 des jeweiligen Sicherheitsdatenblattes die mit „Milizid“, „Milizid Tropical“, „Milizid Mint“, „Milizid Cool Breeze“ bzw. mit „Milizid Citro“ verbundenen Gefahren zu beschreiben und geeignete Warnhinweise im Zusammenhang mit diesen Gefahren anzugeben, insbesondere wenn dies geschieht wie in den als Anlagen AS 4 – AS 8 beigefügten Sicherheitsdatenblättern für die genannten Reinigungsmittel.
Die Antragsgegnerin hat gegen die einstweilige Verfügung Widerspruch eingelegt. Mit Urteil vom 28.10.2015 hat das Landgericht Frankfurt die einstweilige Verfügung bestätigt. Dagegen richtet sich die Berufung der Antragsgegnerin.
Im Berufungsrechtszug wiederholen und vertiefen die Parteien ihr Vorbringen. Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsatz vom 25.5.2016 ausgeführt, eine interne Überprüfung habe ergeben, dass sie seit dem 24.8.2015 ihre Milizid-Produkte mit einer veränderten Rezeptur herstelle, die nur noch 12,4 % Amidosulfonsäure und keinen Harnstoff und keine Zitronensäure mehr enthalte (Anlage AG12). Hinsichtlich der neuen Rezeptur hat sie eine In vitro-Studie vom 11.5.2016 vorgelegt (sog. BCOP-Test; Anlagen AG10, AG11). Die Antragstellerin hat in der mündlichen Verhandlung vom 2.6.2016 klargestellt, dass sich ihr Eilantrag nach wie vor gegen die alte Rezeptur richtet. Das Verfahren solle nicht auf die neue Rezeptur erweitert werden.
Die Antragsgegnerin beantragt,
1.
das Urteil des Landgerichts Frankfurt a.M. vom 28.10.2015, Az. 2-06 O 308/15, und den Beschluss – einstweilige Verfügung – des Landgerichts Frankfurt a.M. vom17.8.2015 aufzuheben;
2.
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung abzuweisen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
mit der Maßgabe, dass es unter Buchstabe c) der Beschlussverfügung des Landgerichts vom 17. August 2015 heißt: „Im geschäftlichen Verkehr ihre Produkte „Milizid“ und/oder „Milizid Tropical“ und/oder „Milizid Mint“ und/oder „Milizid Cool Breeze“ und/oder „Milizid Citro“ anzubieten oder anbieten zu lassen, ohne dabei auf den jeweiligen Produktetiketten Warnhinweise in Bezug auf die mit diesen Produkten verbundenen Gesundheitsgefahren anzubringen, wenn dies geschieht wie auf den in Anlage AS 14 und AS 30 abgebildeten Etiketten;“
weiter mit der Maßgabe, dass im Tenor dieser Beschlussverfügung unter Buchstabe d) das Wort „Gefahren“ durch „Gesundheitsgefahren“ ersetzt wird und die Worte „geeignete“ und „insbesondere“ entfallen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die einstweilige Verfügung auch mit diesen Anträgen aufzuheben und den Antrag auf ihren Erlass zurückzuweisen.
Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
1. Die Eilanträge sind zulässig. Dem auf Hinweis des Senats im Berufungsrechtszug konkretisierten Verfügungstenor zu c) und d) fehlt es nicht an der Bestimmtheit. Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin musste die Antragstellerin in ihren Anträgen nicht angeben, welche konkreten Warnhinwiese sie für erforderlich hält. Die Anträge sind auf die konkrete Verletzungsform, namentlich die Sicherheitsdatenblätter nach Anlagen AS 4-8 und die Etiketten nach Anlagen AS 14 und AS 30 bezogen. Der Vorwurf der Antragstellerin besteht darin, dass überhaupt keine Gefahrenhinweise vorhanden sind, sondern das Produkt im Gegenteil als ungefährlich bezeichnet wird. Sollte die Antragsgegnerin irgendeinen Warnhinweis in Bezug auf Gesundheitsgefahren anbringen, wäre dem tenorierten Verbot Rechnung getragen. Die Vollstreckbarkeit des Verbots erfordert deshalb keine Konkretisierung der Warnhinweise.
2. Es besteht ein Verfügungsgrund (§ 12 II UWG). Die Dringlichkeitsvermutung wird nicht dadurch widerlegt, dass die Antragsgegnerin die Milizid-Produkte angeblich seit 37 Jahren trotz fehlender Gefahrenkennzeichnung ohne jeden Schadensfall vertreibt. Die Antragstellerin bestreitet, dass das Produkt die ganze Zeit über in gleicher Zusammensetzung vertrieben wurde. Dies kann nach dem Sach- und Streitstand auch nicht angenommen werden. Unstreitig hatte die Antragsgegnerin jedenfalls von Juni – Juli 2015 ihre Sicherheitsdatenblätter für die Milizid-Produkte mit dem Hinweis gekennzeichnet, es bestünde die Gefahr von Hautreizungen und schweren Augenschäden (Anlage AS 17). Sie begründete dies damit, die Produkte seien damals in anderer Zusammensetzung vertrieben worden (Bl. 56 d.A.). Soweit danach wieder Produkte kennzeichnungsfrei vertrieben wurden, liegt eine Zäsur vor.
Der Verfügungsgrund als besondere Form des Rechtsschutzbedürfnisses kann auch nicht mit der Begründung verneint werden, das Verfahren sei wegen seiner Komplexität für das Eilverfahren ungeeignet. Lassen sich die Anspruchsvoraussetzungen mit den im Eilverfahren zugelassenen Mitteln nicht hinreichend glaubhaft machen, fehlt es am Verfügungsanspruch. Dies muss jeweils im Einzelfall geprüft werden und nimmt dem Eilantrag nicht von vornherein das Rechtsschutzbedürfnis. Etwaigen Schwierigkeiten, die sich hinsichtlich der Aussagekraft von vorgelegten Studien ergeben können, muss im Eilverfahren durch sachgerechte Anforderungen an den Grad der Glaubhaftmachung Rechnung getragen werden (Senat, Beschl. v. 21.3.2016 – 6 W 21/16, juris).
3. Die Antragstellerin hat gegen die Antragsgegnerin einen Anspruch aus §§ 8 I, 3, 5 I S. 2 Nr. 1 UWG auf Unterlassung, die Milizid-Produkte mit den aus den Anträgen zu a) und b) ersichtlichen Angaben als „kennzeichnungsfrei“ zu bewerben. Insoweit liegt eine Irreführung der Abnehmer vor, da es sich nicht um kennzeichnungsfreie Produkte handelt.
a) Bei den streitgegenständlichen Milizid-Reinigungsprodukten handelt es sich um gefährliche Gemische im Sinne des Art. 3 CLP-VO. Von ihnen gehen Gesundheitsgefahren aus. Nach Art. 4 IV CLP-VO sind als gefährlich eingestufte Gemische entsprechend zu kennzeichnen. Dies muss auf den Sicherheitsdatenblättern und den Produktetiketten erfolgen (Art. 17 ff. CLP-VO).
aa) Nach Art. 4 I stufen Hersteller vor dem Inverkehrbringen Stoffe oder Gemische hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit gemäß Titel II (= Art. 5 ff) ein. Um zu bestimmen, ob mit einem Gemisch eine Gefahr gemäß Anhang I der VO verbunden ist, ermitteln sie die relevanten verfügbaren Informationen über das Gemisch selbst oder die darin enthaltenen Stoffe (Art. 6 I). Zu diesen Informationen gehören nach Art. 6 I lit b) auch Daten und Erfahrungen über die Wirkungen von Stoffen und Gemischen beim Menschen, z. B. Daten aus Unfalldatenbanken (sog. Humandaten).
bb) Liegen entsprechende Informationen für das Gemisch selbst vor und hat sich der Hersteller davon überzeugt, dass die Informationen geeignet und zuverlässig und gegebenenfalls wissenschaftlich fundiert sind, so verwendet er gemäß Art. 6 II diese Informationen für die Zwecke der Bewertung gemäß Kapitel 2 (= Art. 9 ff.) des vorliegenden Titels. Nach Art. 9 I bewerten die Hersteller die so ermittelten Informationen, indem sie sie mit den Kriterien für die Einstufung in die einzelnen Gefahrenklassen oder Differenzierungen in Anhang I Teile 2, 3, 4 und 5 abgleichen, um festzustellen, welche Gefahren mit dem Stoff oder dem Gemisch verbunden sind. Für Gesundheitsgefahren ist Teil 3 maßgeblich. Im Streitfall sind die Ätz- und Reizwirkung auf die Haut (Ziff. 3.2) und die schwere Augenschädigung / Augenreizung (Ziff. 3.3) von Bedeutung.
cc) Gefahr der Ätz- und Reizwirkung auf die Haut:
Nach Ziff. 3.2.3.1.2 gilt ein Gemisch, bei dem Daten für das komplette Gemisch vorliegen (vgl. Ziff. 3.2.3.1), als ätzend für die Haut (Kategorie 1), wenn es einen pH-Wert von höchstens 2 bzw. von mindestens 11,5 hat. Die Milizid-Produkte haben unstreitig einen pH-Wert von 0,5. Die hautätzende Wirkung wird also – ungeachtet der nach Art. 6 I ermittelten verfügbaren Informationen – vermutet.
(1) Das Landgericht hat zu Recht angenommen, dass die Vermutung im Streitfall nicht durch die „saure Reserve“ des Gemischs in Gestalt von 5,45g NaOH/100g widerlegt ist. Nach Ziff. 3.2.3.1.2 kann ein Gemisch trotz des niedrigen pH-Werts unter Berücksichtigung der sog. sauren Reserve als nicht hautätzend anzusehen sein. Darunter ist die saure Pufferkapazität von Stoffen und Gemischen zu verstehen. Die Antragsgegnerin hat eine entsprechende Berechnung der „sauren Reserve“ nach der in der Verordnung vorgeschlagenen Methode Young et. al. vorgelegt (vgl. Bl. 70 d.A.). Dies alleine ist allerdings nicht ausreichend, um die Vermutung zu widerlegen. Das Ergebnis der Berechnung muss nach Ziff. 3.2.3.1.2 durch weitere Prüfungen, vorzugsweise durch eine geeignete validierte In-vitro-Prüfung, bestätigt werden.
(2) Die Antragsgegnerin hat hinsichtlich des streitgegenständlichen Gemischs weder eine In-Vitro-Prüfung durchgeführt, noch durch andere geeignete Prüfungen die Widerlegung der Vermutung der hautätzenden Wirkung durch die saure Reserve bestätigt. Die erstmals im Berufungsverfahren vorgelegte In vitro-Studie vom 11.5.2016 (sog. BCOP-Test, Anlagen AG10, AG11), betrifft eine veränderte Rezeptur, mithin ein anderes Produkt (vgl. unten c).
(3) Ohne Erfolg beruft sich die Antragsgegnerin zur Widerlegung der pH-Wert-Vermutung auf die von ihr vorgelegte Klinitox-Studie (Anlage 1.2.3.1), bei der es sich um eine retrospektive Auswertung der Daten der acht Giftnotrufzentralen (GIZ) über einen Zeitraum von 16 Jahren handelt. Danach wurden Milizid-Produkte bei den GIZ selten angefragt. Wahrscheinlich kausal auf dieses Produkt zurückzuführende Augenexpositionen und Hautexpositionen wurden 11 bzw. 9 Mal gemeldet. Alle Fälle bezogen sich auf leichte, keiner auf mittelschwere oder schwere Symptome. Eine vollständige Erholung der Patienten erscheint deshalb wahrscheinlich, konnte aber auf Grundlage der Daten nicht sicher belegt werden (S. 35, 36 der Studie).
(a) Das Landgericht hat zu Recht angenommen, dass die geringe Zahl der Anfragen an die Giftnotrufzentralen kein verlässliches Beurteilungskriterium ist. Denn es besteht weder eine Verpflichtung, Schadensfälle der GIZ zu melden noch ein Erfahrungssatz, dass dies üblicherweise geschieht. Auch die geringe Zahl der Anfragen im Verhältnis zur Gesamtzahl der GIZ-Anfragen ist nicht aussagekräftig, da nicht ersichtlich ist, auf wie viele verschiedene Produkte sich die Gesamtzahl bezieht. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Daten der GIZ grundsätzlich geeignet sein können, um für die Einstufung herangezogen zu werden. Geht es um die Widerlegung der Gefahrenvermutung nach Ziff. 3.2.3.1.2, gilt ein strenger Maßstab. Die Vermutung muss sich mit den Daten zuverlässig widerlegen lassen. Daran fehlt es aus den genannten Gründen.
(b) Ohne Erfolg beruft sich die Antragsgegnerin auch darauf, die von den GIZ zuweilen festgestellte „leichte“ Reizung läge unterhalb der Schwelle der Haut- und Augenreizung im Sinne der CLP-VO. Der Begriff der „Ätzwirkung auf die Haut“ wird in Ziff. 3.2.1.1, Anhang I erläutert. Sie kann in – nach vierstündiger Applikation – festzustellenden Geschwüren, Blutungen und blutigen Verschorfungen bestehen und am Ende des Beobachtungszeitraums von 14 Tagen in Verfärbungen durch Ausbleichen der Haut, haarlosen Bereichen und Narben. Der Begriff der „Hautreizung“ erfasst nach Ziff. 3.2.1.1. das Erzeugen reversibler Hautschädigungen (durch Applikation einer Prüfsubstanz für eine Dauer von bis zu 4 Stunden). In Tabelle 3.2.2 werden Werte für die erforderliche Reizwirkung angegeben. Der Vortrag der Antragsgegnerin geht dahin, dass die in der Klinitox-Studie beschriebenen Reizwirkungen dahinter zurückbleiben. Für diesen Schluss gibt es jedoch keine ausreichende Grundlage. Denn die dort beschriebenen Fälle betreffen schon keine ausreichend lange Aussetzung mit dem Gemisch. Es fanden auch keine ausreichenden Nachuntersuchungen statt.
(4) Keine ausreichende Prüfung stellt auch die Gefährdungsbeurteilung der Fa. … GmbH vom 22.6.2015 dar (Anlage 1.2.3.3 zu Anlage AG 7). Mit ihr lässt sich die Widerlegung der pH-Wert-Vermutung ebenfalls nicht bestätigen. Der Bericht bezieht sich auf Beobachtungen der Fa. …, die für die Arbeitssicherheit bei der Antragsgegnerin zuständig war. Die Untersuchung ist weder für Augenreizungen noch für Hautreizungen aussagekräftig. Aufgrund von Schutzvorkehrungen bestand bei den Arbeitnehmern von vornherein nur die Gefahr kleinflächiger und kurzfristiger Haut- und Augenkontakte. Dies genügt den Anforderungen der „weiteren Prüfung“ nach der CLP-VO ersichtlich nicht.
(5) Nichts anderes kann auch aus dem erstinstanzlich vorgelegten TÜV-Gutachten und dem im Berufungsrechtszug vorgelegten Beweiskraftgutachten des TÜV Süd (Anlage AG 8) entnommen werden. Auf Beweiskraftgutachten ist nach Ziff. 1.1.1.1. des Anhangs I zurückzugreifen, wenn sich die Einstufungskriterien nicht unmittelbar auf die verfügbaren ermittelten Informationen anwenden lassen. Nach dem Ergebnis des Gutachtens (Anlage AG 8) liegen „beweiskräftige Humandaten“ vor, die zu dem Ergebnis führen, dass Milizid nicht als haut- oder augenirritierend im Sinne der CLP-VO einzustufen sei. Eine Reizwirkung auf die Haut gemäß den Kriterien nach Anhang I Nr. 3.2.2.7 sei in der Praxis nicht zu erwarten (S. 23). Auch eine Augenreizung nach den Kriterien Anhang I Nr. 3.3.2.7 sei in der Praxis nicht zu erwarten (S. 24). Das Gutachten besteht in einer Auswertung der auch dem Senat vorliegenden Humandaten (klinitox-Studie und Gefährdungsbeurteilung der Fa. …). Die dargelegten Zweifel werden dadurch nicht entkräftet. Insbesondere kann nicht gesagt werden, die der GIZ gemeldeten leichten Reizungen seien irrelevant, weil die CLP-VO von anderen Reizungskriterien ausgehe. Vielmehr bestätigt dieser Umstand nur die Ansicht des Landgerichts, dass die GIZ-Daten nicht hinreichend aussagekräftig sind.
(6) Die Antragsgegnerin kann den genannten Einwänden auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass die Verordnung teilweise sogar von einem „Vorrang“ sog. Humandaten, also etwa der Daten aus Unfalldatenbanken, ausgeht. Der „Vorrang“ gilt gegenüber sog. In-vivo-Untersuchungen, also Versuchen an lebenden Tieren (vgl. Erwägungsgründe 20, 21, 28). Darum geht es im Streitfall nicht. Die Bestimmung Ziff. 3.2.3.1.2 hält für die Widerlegung der Gefahrenvermutung ausdrücklich eine In-vitro-Prüfung für vorzugswürdig. Insofern gilt kein Vorrang von Humandaten. Ganz allgemein ist zwar an erster Stelle den bestehenden Erfahrungen beim Menschen Beachtung zu schenken (Ziff. 3.2.2.4). Erforderlich ist jedoch eine Gesamtbewertung. Humandaten sind nur dann von Bedeutung, wenn sie hinreichend aussagekräftig sind. Dementsprechend stellen Erfahrungen beim Menschen nur erste Anhaltspunkte für die Analyse dar (Ziff. 3.2.2.1). Ohne Erfolg beruft sich die Beklagte auch auf Art. 6 I lit. b CLP-VO. Zu den vom Hersteller im Rahmen der Selbsteinstufung heranzuziehenden Informationen gehören zwar Erfahrungen über die Wirkungen beim Menschen. Diese reichen jedoch nicht aus, wenn wegen des niedrigen PH-Werts eine Gesundheitsgefahr vermutet wird. In diesem Fall „ist“ durch weitere Prüfungen zu bestätigen, dass das Gemisch unter Berücksichtigung der sauren Reserve nicht hautätzend ist (Ziff. 3.2.3.1.2). Selbst wenn man die vorgelegten Untersuchungen als „weitere Prüfungen“ in diesem Sinn ansieht, rechtfertigen sie aus den genannten Gründen im Ergebnis jedenfalls nicht die Einstufung als „kennzeichnungsfrei“.
dd) Gefahr der Augenschädigung oder Augenreizung:
Es besteht ferner die Gefahr von Augenschädigungen oder Augenreizungen. Nach Ziff. 3.3.1.1., Anhang I ist unter „Augenschädigung“ das Erzeugen von Gewebeschäden im Auge oder einer schwerwiegende Verschlechterung des Sehvermögens zu verstehen. Unter „Augenreizung“ ist das Erzeugen von revesiblen Veränderungen am Auge zu verstehen. Beide Indikationen beziehen sich auf den Zustand 21 Tage nach der Applikation des Prüfstoffes auf die Oberfläche des Auges. Auch hier gilt eine Vermutung, dass ein Gemisch dann als schwere Augenschäden verursachend gilt, wenn es einen pH-Wert von < 2,0 hat.
(1) Auch hier ist die Vermutung nicht durch die „saure Reserve“ des Gemischs in Gestalt von 5,45g NaOH/100g widerlegt, da es an ausreichenden weiteren Prüfungen fehlt. Ohne Erfolg beruft sich die Antragsgegnerin darauf, ein In-vitro-Test sei nicht möglich, weil geeignete Tests nicht zur Verfügung stünden. Diese Behauptung ist nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Aus der in Bezug genommenen Untersuchung der A.I.S.E. (International Association for Soaps, Detergents and Maintenance Products, Anlage AG4, Bl. 99 d.A.) ergibt sich im Gegenteil, dass jedenfalls der sog. ICE-Test (Isolated Chicken Eye) geeignet ist, um Produkte mit extremen pH-Werten bezüglich Wirkungen am Auge (Kategorie 1) einzustufen. Die Antragsgegnerin kann auch nicht damit gehört werden, Tests am „toten Auge“ seien von vornherein ungeeignet, weil dabei natürliche Schutzmechanismen wie Tränenflüssigkeit etc. unberücksichtigt bleiben. Die Verordnung sieht die in-vitro-Prüfung als „vorzugsweise“ anzuwendende Methode ausdrücklich vor.
(2) Die von der Antragsgegnerin vorgelegten Humandaten sind nicht geeignet, die Widerlegung der pH-Wert-Vermutung in Bezug auf Augenschädigungen oder -reizungen zu bestätigen. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen Bezug genommen werden. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob die Antragstellerin ihrerseits durch die vorgelegten BCOP-Tests (In-Vitro-Prüfungen unter Verwendung frischer Rinderaugenhornhaut) und EpiOcular-Tests (In-Vitro-Prüfungen unter Verwendung von Human-Hornhautgewebe) positiv glaubhaft gemacht hat, dass die Milizid-Sanitärreiniger der Antragsgegnerin schwere Augenschäden (Kategorie 1) hervorrufen können (Anlagen AS 15, 16) oder zumindest augenreizend sind (Anlage AS 36).
b) Die Antragsgegnerin kann dem Anspruch nicht mit Erfolg entgegenhalten, als Herstellerin stünde ihr bei der Gefahreneinstufung ein Ermessensspielraum zu. Richtig ist zwar, dass das Prinzip der Selbsteinstufung einen gewissen Beurteilungsspielraum impliziert, wenn es um die Einordnung in verschiedene Gefahrklassen geht. Die Einstufung mag auch nicht immer eindeutig bestimmbar sein (vgl. Erwägungsgrund 33). Kein Ermessensspielraum besteht jedoch bei der Frage, ob ein Gemisch überhaupt gesundheitsgefährdend im Sinne des Art. 3 CLP-VO ist. Oberstes Ziel der Verordnung ist die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit (Erwägungsgrund 1). In Zweifelsfällen ist daher eine Gefahrenkennzeichnung vorzunehmen und das Produkt nicht als „kennzeichnungsfrei“ zu bewerben. Greift wie im Streitfall eine Gefahrenvermutung ein, muss diese eindeutig widerlegt werden. Die Antragsgegnerin kann sich auch nicht auf die pauschale Behauptung zurückziehen, ihr Produkt habe in 37 Jahren zu keinerlei Schäden geführt. Dies ändert nichts an dem unter Ziff. 3. a) festgestellten Gefährdungspotential.
c) Ohne Erfolg beruft sich die Antragsgegnerin schließlich im Berufungsverfahren erstmals darauf, sie habe ihre Rezeptur verändert. Das zum Zeitpunkt der Zustellung der einstweiligen Verfügung am 17.8.2015 noch vertriebene Produkt werde seit dem 24.8.2015 nicht mehr hergestellt. Das neue Produkt weise nicht den gleichen Säuregehalt auf. Darauf kommt es nicht an. Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist allein das in den Anlagen zum Verfügungsantrag beworbene Produkt. Die Wiederholungsgefahr für die angegriffene Verletzungshandlung kann nicht durch die zwischenzeitliche Änderung der Rezeptur ausgeräumt werden. Eine strafbewehrte Unterlassungserklärung hat die Antragsgegnerin nicht abgegeben. Soweit die Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 25.5.2016 auch andeutet, schon ab Einführung der CLP-VO am 1.6.2015 sei eine veränderte Rezeptur vertrieben worden, fehlt es dem Vortrag an der Substanz. Erstinstanzlich hatte die Antragsgegnerin eine veränderte Rezeptur in der Zeit von Juni – Juli 2015 behauptet. Darauf kommt es nicht an. Nach den unangegriffenen tatbestandlichen Feststellungen des Landgerichts entsprechen die Produkte in ihrer derzeitigen Zusammensetzung (also bis zum Zeitpunkt des Schlusses der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung) der Zusammensetzung der Produkte im Zeitraum bis zum 31.5.2015 (LGU 3). Um diese Produkte geht es.
4. Die Antragstellerin hat gegen die Antragsgegnerin auch einen Anspruch auf Unterlassung, die Milizid-Produkte ohne die nach Art. 17ff. der CLP-VO erforderlchen Warnhinweise anzubieten (Antrag c).
5. Die Antragstellerin kann schließlich auch verlangen, dass die Sicherheitsdatenblätter mit Warnhinweisen versehen werden (Antrag d). Der Anspruch ergibt sich aus § 5a IV UWG i.V.m. Art. 31 I, Anhang II REACH-VO.
a) Nach Art. 31 I REACH-VO muss der Lieferant von Gemischen im Sinne der CLP-VO (bzw. der Vorgängerrichtlinie 67/548/EWG) seinen Abnehmern ein Sicherheitsdatenblatt zur Verfügung stellen, das den Anforderungen des Anhangs II genügt. Nach Anhang II Ziff. 2.2 sind die in der CLP-VO vorgegebenen Warnhinweise (Piktogramme, Gefahrenhinweise) anzugeben. Daran fehlt es im Streitfall. Die aus den Anlagen AS 4-8 ersichtlichen Sicherheitsdatenblätter enthalten stattdessen den Hinweis, das Gemisch sei „nicht gefährlich“ im Sinne der Verordnung. Dies trifft aus den oben genannten Gründen nicht zu.
b) Ohne Erfolg beruft sich die Antragsgegnerin darauf, der Anspruch könne sich jedenfalls nicht darauf erstrecken, Sicherheitsdatenblätter ohne Warnhinweise durch Dritte „zur Verfügung stellen zu lassen“. Insoweit fehle es an einer vorgetragenen Verletzungshandlung, mithin der Wiederholungsgefahr. Indes bedarf es für diesen Anspruchsteil keiner nachgewiesenen Verletzungshandlung in Gestalt einer tatsächlichen Drittbeauftragung. Der Antrag beschreibt insoweit nur den Kernbereich des Verbots, der auch Handlungen umfasst, die die Antragsgegnerin Dritte ausführen lässt. Es kommt auch nicht darauf an, dass nachgeschaltete Lieferanten nach Art. 31 I REACH-VO selbst für die Einhaltung der Anforderungen an die Sicherheitsdatenblätter verantwortlich sind. Eine besondere Verantwortung des Herstellers ergibt sich jedenfalls daraus, dass ein Handelsunternehmen, das über die genaue Zusammensetzung keine Kenntnis hat, in aller Regel kein eigenes Sicherheitsdatenblatt erstellen wird. Händler dürfen nach Art. 4 Abs. V, Abs. VI CLP-VO von der Gefahreneinstufung ausgehen, die ein Akteur der Lieferkette vorgenommen hat. Das Inverkehrbringen des Sicherheitsdatenblatts durch die Klägerin lässt damit von vornherein die Weitergabe durch Dritte erwarten.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Hinsichtlich der Konkretisierung der Verfügungsanträge zu c) und d) im Rahmen der mündlichen Verhandlung war keine Kostenquote veranlasst. Es handelt es sich nicht um eine Teilrücknahme, sondern lediglich um eine Klarstellung des Verfügungsbegehrens.