Verbrauchervertrag von Amts wegen nichtig?

30. April 2010
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Eigener Leitsatz:

Unklar darüber, ob ein spanisches Gericht von Amts wegen darüber entscheiden darf, ob ein Gericht auch ohne Vorbringen der Parteien von Amts wegen Nichtigkeitsgründe eines Verbrauchervertrages feststellen darf, legte es diese Frage dem EuGH vor. Dieses bejahte dies und sah ein Einschreiten des Gerichtes im Interesse der öffentlichen Ordnung als erforderlich an.

Gerichtshof der Europäischen Union

Urteil vom 17.12.2009

Az.: C-227/08

 

In der Rechtssache C-227/08

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Audiencia Provincial de Salamanca (Spanien) mit Entscheidung vom 20. Mai 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Mai 2008, in dem Verfahren

Eva Martín Martín

gegen

EDP Editores SL

erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter A. Borg Barthet und M. Ilešič,

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. März 2009,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der EDP Editores SL, vertreten durch J. M. Sanchez Garcia, abogado,

– der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,

– der spanischen Regierung, vertreten durch B. Plaza Cruz und J. López-Medel Bascones als Bevollmächtigte,

– der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Vidal Puig und W. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 7. Mai 2009

folgendes Urteil

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (ABl. L 372, S. 31, im Folgenden: Richtlinie).

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der EDP Editores SL (im Folgenden: EDP) und Frau Martín Martín wegen deren Weigerung, ihre Verpflichtungen aus einem Vertrag zu erfüllen, den sie in ihrer Wohnung mit einem Vertreter von EDP abgeschlossen hatte.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

In den Erwägungsgründen 4 bis 6 der Richtlinie wird Folgendes ausgeführt:

„Verträge, die außerhalb der Geschäftsräume eines Gewerbetreibenden abgeschlossen werden, sind dadurch gekennzeichnet, dass die Initiative zu den Vertragsverhandlungen in der Regel vom Gewerbetreibenden ausgeht und der Verbraucher auf die Vertragsverhandlungen nicht vorbereitet ist. Letzterer hat häufig keine Möglichkeit, Qualität und Preis des Angebots mit anderen Angeboten zu vergleichen. …

Um dem Verbraucher die Möglichkeit zu geben, die Verpflichtungen aus dem Vertrag noch einmal zu überdenken, sollte ihm das Recht eingeräumt werden, innerhalb von mindestens sieben Tagen vom Vertrag zurückzutreten.

Außerdem ist es geboten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass der Verbraucher schriftlich von seiner Überlegungsfrist unterrichtet ist.“

Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie gilt für Verträge, die zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen erbringt, und einem Verbraucher geschlossen werden:

[…]

–        anlässlich eines Besuchs des Gewerbetreibenden

i)      beim Verbraucher in seiner oder in der Wohnung eines anderen Verbrauchers,

[…]

sofern der Besuch nicht auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers erfolgt.“

Art. 4 der Richtlinie bestimmt:

„Der Gewerbetreibende hat den Verbraucher bei Geschäften im Sinne des Artikels 1 schriftlich über sein Widerrufsrecht innerhalb der in Artikel 5 festgelegten Fristen zu belehren und dabei den Namen und die Anschrift einer Person anzugeben, der gegenüber das Widerrufsrecht ausgeübt werden kann.

Diese Belehrung ist zu datieren und hat Angaben zu enthalten, die eine Identifizierung des Vertrages ermöglichen. Sie ist dem Verbraucher auszuhändigen

a)      im Fall von Artikel 1 Absatz 1 zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses;

[…]

Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften geeignete Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers vorsehen, wenn die in diesem Artikel vorgesehene Belehrung nicht erfolgt.“

Art. 5 der Richtlinie sieht vor:

„(1) Der Verbraucher besitzt das Recht, von der eingegangenen Verpflichtung zurückzutreten, indem er dies innerhalb von mindestens sieben Tagen nach dem Zeitpunkt, zu dem ihm die in Artikel 4 genannte Belehrung erteilt wurde, entsprechend dem Verfahren und unter Beachtung der Bedingungen, die im einzelstaatlichen Recht festgelegt sind, anzeigt. …

(2) Die Anzeige bewirkt, dass der Verbraucher aus allen aus dem widerrufenen Vertrag erwachsenden Verpflichtungen entlassen ist.“

Art. 8 dieser Richtlinie lautet:

„Die vorliegende Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, noch günstigere Verbraucherschutzbestimmungen auf dem Gebiet dieser Richtlinie zu erlassen oder beizubehalten.“

Nationales Recht

Das Gesetz 26/1991 vom 21. November 1991 über außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge (BOE Nr. 283 vom 26. November 1991) setzt die Richtlinie in das spanische Recht um.

Art. 3 dieses Gesetzes sieht vor:

1. Der Vertrag oder das Vertragsangebot im Sinne von Art. 1 ist schriftlich in zweifacher Ausfertigung niederzulegen, mit einem Widerrufsformular zu versehen und vom Verbraucher eigenhändig zu datieren und zu unterschreiben.

2. Die Vertragsurkunde muss in fettgedruckter Schrift unmittelbar über dem für die Unterschrift des Verbrauchers vorgesehenen Feld einen klaren und genauen Hinweis auf das Recht des Verbrauchers, die Vereinbarung zu widerrufen, sowie auf die Voraussetzungen und Folgen der Ausübung dieses Rechts enthalten.

3. Das Widerrufsformular muss in deutlich hervorgehobener Form den Begriff ‚Widerrufsformular‘, Namen und Anschrift der Person, an die es zu senden ist, sowie Angaben zur Identifizierung des Vertrags und der Vertragsparteien enthalten.

4. Nach Unterzeichnung des Vertrags händigt der Unternehmer oder die für ihn handelnde Person dem Verbraucher eine der zwei Ausfertigungen des Vertrags und das Widerrufsformular aus.

5. Der Beweis der Erfüllung der Pflichten nach diesem Artikel obliegt dem Unternehmer.“

Art. 4 des Gesetzes 26/1991 regelt die Folgen der Verletzung der in Art. 3 dieses Gesetzes aufgeführten Pflichten und bestimmt:

„Verträge oder Angebote, die unter Verstoß gegen die im vorhergehenden Artikel festgelegten Erfordernisse geschlossen bzw. abgegeben wurden, können auf Antrag des Verbrauchers für nichtig erklärt werden.

Der Unternehmer kann sich auf keinen Fall auf die Nichtigkeit berufen, es sein denn, der Verstoß ist ausschließlich dem Verbraucher zuzurechnen.“

Art. 9 dieses Gesetzes lautet:

„Der Verbraucher kann auf die Rechte, die ihm dieses Gesetz einräumt, nicht verzichten. Für den Verbraucher günstigere Vertragsbestimmungen sind jedoch wirksam.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

Frau Martín Martín schloss am 20. Mai 2003 bei sich zu Hause einen Vertrag mit einem Vertreter von EDP, der den Kauf von 15 Büchern, fünf DVDs und einem DVD-Spieler zum Gegenstand hatte. Diese Waren wurden ihr am 2. Juni 2003 geliefert.

Da EDP für die Ware keine Zahlung erhielt, beantragte sie beim Juzgado de Primera Instancia n° 1 de Salamanca die Einleitung eines Mahnverfahrens gegen Frau Martín Martín und forderte die Zahlung eines Betrags von 1 861,52 Euro zuzüglich gesetzlicher Zinsen und Kosten.

Nachdem die Beklagte mit Urteil vom 14. Juni 2007 zur Zahlung des geforderten Betrags verurteilt worden war, legte sie Berufung bei der Audiencia Provincial de Salamanca ein.

Die Audiencia Provincial de Salamanca führt in ihrem Vorlagebeschluss aus, der fragliche Vertrag sei möglicherweise für nichtig zu erklären, da die Beklagte nicht ordnungsgemäß über ihr Recht, ihre Einwilligung innerhalb einer Frist von sieben Tagen nach Lieferung der Ware zu widerrufen, sowie über die Voraussetzungen und die Folgen der Ausübung dieses Rechts belehrt worden sei. Allerdings habe Frau Martín Martín die Nichtigkeit weder im ersten Rechtszug noch im Berufungsverfahren geltend gemacht.

Angesichts der Tatsache, dass nach Art. 4 des Gesetzes 26/1991 der Verbraucher die Nichtigerklärung des unter Verstoß gegen die Pflichten nach Art. 3 dieses Gesetzes geschlossenen Vertrags beantragen muss und nach spanischem Recht im Zivilprozess im Allgemeinen der Dispositionsgrundsatz („de justicia rogada“) gilt, wonach das Gericht Tatsachen, Beweise und Ansprüche, die die Parteien nicht geltend gemacht haben, nicht von Amts wegen prüfen kann, fragt sich die Audiencia Provincial de Salamanca, ob sie bei der Entscheidung über die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil nur die im Widerspruchs- und im Berufungsverfahren erhobenen Einwendungen berücksichtigen darf oder ob ihr die Richtlinie vielmehr gestattet, von Amts wegen über eine mögliche Nichtigkeit des Vertrags zu entscheiden.

Vor diesem Hintergrund hat die Audiencia Provincial de Salamanca das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 153 EG in Verbindung mit den Art. 3 EG und 95 EG sowie mit Art. 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [verkündet in Nizza am 7. Dezember 2000 (ABl. C 364, S. 1)] und der Richtlinie, und zwar ihrem Art. 4, dahin gehend auszulegen, dass das Gericht, das über die Berufung gegen das im ersten Rechtszug ergangene Urteil entscheidet, einen Vertrag, der in den Anwendungsbereich der genannten Richtlinie fällt, von Amts wegen für nichtig erklären kann, wenn der beklagte Verbraucher die Nichtigkeit weder mit dem Widerspruch gegen den Mahnbescheid noch im mündlichen Verfahren oder mit der Berufung geltend gemacht hat?

Zur Vorlagefrage

Mit ihrer Frage möchte die Audiencia Provincial de Salamanca im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht von Amts wegen einen Verstoß gegen diese Bestimmung aufgreifen und die Nichtigkeit eines Vertrags, der in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, aus dem Grund feststellen darf, dass der Verbraucher nicht über sein Widerrufsrecht belehrt wurde, obwohl der Verbraucher die Nichtigkeit vor den zuständigen nationalen Gerichten zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht hat.

Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Gemeinschaftsrecht von den nationalen Gerichten grundsätzlich nicht verlangt, von Amts wegen die Frage eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht aufzugreifen, wenn sie für die Prüfung dieser Frage die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen müssten, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung der betreffenden Gemeinschaftsvorschriften hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Dezember 1995, van Schijndel und van Veen, C‑430/93, Slg. 1995, I‑4705, Randnr. 22, und vom 7. Juni 2007, van der Weerd u. a., C‑222/05 bis C‑225/05, Slg. 2007, I‑4233, Randnr. 36).

Diese Beschränkung der Befugnisse des nationalen Gerichts ist durch den Grundsatz gerechtfertigt, dass die Initiative in einem Prozess den Parteien zusteht und das Gericht folglich nur in Ausnahmefällen von Amts wegen tätig werden darf, wenn sein Einschreiten im Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich ist (vgl. Urteile van Schijndel und van Veen, Randnr. 21, und van der Weerd u. a., Randnr. 35).

Daher ist erstens zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren fragliche gemeinschaftsrechtliche Bestimmung, nämlich Art. 4 der Richtlinie, auf einem solchen öffentlichen Interesse beruht.

Dazu ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie über Haustürgeschäfte, wie insbesondere aus ihren Erwägungsgründen 4 und 5 hervorgeht, den Verbraucher vor den Gefahren schützen soll, die sich aus den Umständen eines Vertragsschlusses außerhalb von Geschäftsräumen ergeben (Urteil vom 10. April 2008, Hamilton, C‑412/06, Slg. 2008, I‑2383, Randnr. 32), die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Initiative zu den Vertragsverhandlungen in der Regel vom Gewerbetreibenden ausgeht und sich der Verbraucher nicht, insbesondere durch einen Vergleich der Preise und der Qualität verschiedener Angebote, auf eine solche Kundenwerbung vorbereitet hat.

In Anbetracht dieses Ungleichgewichts gewährleistet die Richtlinie den Schutz des Verbrauchers vor allem dadurch, dass sie zu seinen Gunsten ein Widerrufsrecht vorsieht. Gerade dieses Recht soll nämlich den Nachteil ausgleichen, der dem Verbraucher durch eine Kundenwerbung außerhalb von Geschäftsräumen entsteht, indem es ihm die Möglichkeit gibt, die Verpflichtungen aus dem Vertrag zumindest sieben Tage lang zu überdenken (vgl. in diesem Sinne Urteil Hamilton, Randnr. 33).

Um den Schutz des Verbrauchers in Situationen zu stärken, auf die er nicht vorbereitet ist, verlangt die Richtlinie darüber hinaus in Art. 4, dass der Gewerbetreibende den Verbraucher schriftlich über sein Recht, vom Vertrag zurückzutreten, sowie über die Voraussetzungen und die Modalitäten der Ausübung dieses Rechts belehrt.

Schließlich geht aus Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie hervor, dass die Mindestfrist von sieben Tagen ab dem Zeitpunkt zu berechnen ist, zu dem der Verbraucher diese Belehrung vom Gewerbetreibenden erhalten hat. Wie der Gerichtshof bereits an anderer Stelle ausgeführt hat, erklärt sich diese Bestimmung dadurch, dass der Verbraucher das Widerrufsrecht nicht ausüben kann, wenn es ihm nicht bekannt ist (Urteil vom 13. Dezember 2001, Heininger, C‑481/99, Slg. 2001, I‑9945, Randnr. 45).

Die mit der Richtlinie geschaffene Schutzregelung setzt mit anderen Worten nicht nur voraus, dass der Verbraucher als schwächere Partei über das Recht verfügt, vom Vertrag zurückzutreten, sondern ebenso, dass er aufgrund einer ausdrücklichen schriftlichen Belehrung Kenntnis von seinen Rechten erlangt.

Daher ist festzustellen, dass die Belehrungspflicht nach Art. 4 der Richtlinie, wie die Generalanwältin in den Nrn. 55 und 56 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, im allgemeinen System der Richtlinie eine zentrale Stellung als wesentliche Garantie für die tatsächliche Ausübung des Widerrufsrechts und daher für die praktische Wirksamkeit des vom Gemeinschaftsgesetzgeber angestrebten Verbraucherschutzes einnimmt.

Diese Bestimmung betrifft daher die öffentliche Ordnung im Sinne der in Randnr. 20 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung und kann daher ein positives Eingreifen des nationalen Gerichts rechtfertigen, um bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abzuhelfen.

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das angerufene nationale Gericht, wenn der Verbraucher nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt wurde, den Verstoß gegen die nach Art. 4 der Richtlinie erlassenen Bestimmungen von Amts wegen aufgreifen kann.

Nach dieser Feststellung ist zur Beantwortung der Frage der Audiencia Provincial de Salamanca zweitens näher auf die möglichen Folgen eines solchen Verstoßes einzugehen, nämlich auf die Möglichkeit für das angerufene nationale Gericht, den unter Verletzung der Belehrungspflicht geschlossenen Vertrag für nichtig zu erklären.

Dazu hat der Gerichtshof bereits ausgeführt, dass Art. 4 Unterabs. 3 der Richtlinie zwar die Regelung der Folgen eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht den Mitgliedstaaten überlässt, dass aber die mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befassten Gerichte das gesamte innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen haben, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von ihr verfolgten Ziel vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil vom 25. Oktober 2005, Schulte, C‑350/03, Slg. 2005, I‑9215, Randnrn. 69, 71 und 102).

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass zum einen der Begriff „geeignete Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers“ in Art. 4 Unterabs. 3 der Richtlinie den nationalen Behörden bei der Festlegung der Folgen einer unterlassenen Belehrung einen Ermessensspielraum einräumt, der jedoch im Einklang mit dem Ziel der Richtlinie zu nutzen ist, um einen den Umständen des Einzelfalls angemessenen Verbraucherschutz zu gewährleisten.

Zum anderen ist zu beachten, dass die Richtlinie nur eine Mindestharmonisierung vornimmt, da sie nach ihrem Art. 8 die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, auf dem Gebiet der Richtlinie noch günstigere Verbraucherschutzbestimmungen zu erlassen oder beizubehalten (vgl. in diesem Sinne Urteil Hamilton, Randnr. 48).

Vor diesem Hintergrund kann eine Maßnahme wie die, die das vorlegende Gericht ins Auge fasst, nämlich den strittigen Vertrag für nichtig zu erklären, als „geeignet“ im Sinne von Art. 4 Unterabs. 3 der Richtlinie eingestuft werden, da sie den Verstoß gegen eine Verpflichtung ahndet, deren Erfüllung, wie in den Randnrn. 26 und 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, für die Willensbildung des Verbrauchers und die Verwirklichung des vom Gemeinschaftsgesetzgeber angestrebten Schutzniveaus wesentlich ist.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass zum einen dieses Ergebnis es nicht ausschließt, dieses Schutzniveau auch durch andere Maßnahmen zu gewährleisten, z. B. durch einen nochmaligen Beginn des Fristenlaufs für den Rücktritt vom Vertrag, wodurch dem Verbraucher ermöglicht wird, das ihm von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie eingeräumte Recht auszuüben. Zum anderen kann das angerufene nationale Gericht berücksichtigen, dass die Nichtigerklärung des fraglichen Vertrags unter bestimmten Umständen nicht dem Willen des Verbrauchers entspricht (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Juni 2009, Pannon GSM, C‑243/08, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 33).

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 4 der Richtlinie es einem nationalen Gericht nicht verwehrt, von Amts wegen die Nichtigkeit eines Vertrags, der in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, aus dem Grund festzustellen, dass der Verbraucher nicht über sein Widerrufsrecht belehrt wurde, obwohl der Verbraucher die Nichtigkeit vor den zuständigen nationalen Gerichten zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht hat.

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 4 der Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen verwehrt es einem nationalen Gericht nicht, von Amts wegen die Nichtigkeit eines Vertrags, der in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, aus dem Grund festzustellen, dass der Verbraucher nicht über sein Widerrufsrecht belehrt wurde, obwohl der Verbraucher die Nichtigkeit vor den zuständigen nationalen Gerichten zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht hat.

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