Berücksichtigung einer zurückgenommenen Patentanmeldung bei der Neuheitsprüfung

14. Dezember 2015
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Patenturkunde - rotes Siegel Urteil des BGH vom 08.09.2015, Az.: X ZR 113/13

Eine ältere nachveröffentlichte Patentanmeldung ist bei der Neuheitsprüfung auch dann zu berücksichtigen, wenn sie nach ihrer Veröffentlichung zurückgenommen wird oder als zurückgenommen gilt.

Bundesgerichtshof

Urteil vom 08.09.2015

Az.: X ZR 113/13

Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. September 2015 durch den Vorsitzenden Richter …, die Richter …, … und … sowie die Richterin … für Recht erkannt:

Die Berufung der Beklagten gegen das am 3. Juli 2013 verkündete Urteil des 5. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts wird zurückgewiesen.

Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben die Klägerin ein Viertel und die Beklagte drei Viertel zu tragen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des auch für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 595 790 (Streitpatent), das unter Inanspruchnahme der Priorität der deutschen Patentanmeldung 41 12 712.9 (NK4) vom 18. April 1991 am 9. April 1992 angemeldet wurde und nach Klageerhebung durch Zeitablauf erloschen ist. Von insgesamt acht Patentansprüchen hat Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung folgenden Wortlaut:

„Verfahren zum kompatiblen Übertragen einer Signalart-Zusatzinformation (106) in nicht zum vertikalen Rücklauf gehörenden Zeilen eines Fernsehsignals, wobei die Signalart-Zusatzinformation in verbesserten 16:9-Empfängern auswertbar ist, dadurch gekennzeichnet, dass als Signalart-Zusatzinformation in der von Bildsignalen freien Hälfte der ersten oder letzten aktiven Bildzeile von Fernsehbildern ein Datenpaket übertragen wird, welches Einlauf-, Start- und Nutzinformationsdaten enthält, wobei empfangsseitig die Einlaufinformationsdaten für die phasenrichtige Rückgewinnung des Datentaktes der Nutzinformationsdaten dienen und die Startinformationsdaten zur Adressierung der Nutzinformationsdaten sowie zur selektiven Erfassung des Beginns der Nutzinformationsdaten dienen, und dass die Signalart-Zusatzinformation mindestens zwei der folgenden Fernseh-Signalarten umfasst:
– Standard-Signal, das kein Letterbox-Signal ist und keine Bild-Zusatzinformationen enthält;
– Letterbox-Signal ohne Bild-Zusatzinformationen;
– Letterbox-Signal von Film-Quelle mit Bild-Zusatzinformationen;
– Letterbox-Signal von Kamera-Quelle mit Bild-Zusatzinformationen, insbesondere mit einer Unterscheidung zwischen als statisch und als bewegt geltendem Bildinhalt der Halb- oder Vollbilder.“

Die Klägerin, die wegen Verletzung des Streitpatents in Anspruch genommen wird, hat mit der Nichtigkeitsklage geltend gemacht, dem Gegenstand des Streitpatents, das die angegebene Priorität nicht wirksam beanspruchen könne, fehle die Patentfähigkeit. Patentanspruch 2 und die Beschreibung enthielten jeweils unzulässige Erweiterungen. Weiterhin sei der Gegenstand nicht in einer für den Fachmann ausführbaren Weise offenbart.

Das Patentgericht hat das Streitpatent teilweise für nichtig erklärt, indem Patentanspruch 1 am Ende folgendes Merkmal angefügt worden ist:

„und dass den Einlaufinformationsdaten ein Impuls der Dauer T2 vorangestellt ist, dessen Pegel der maximalen Amplitude Umax der Daten entspricht und dessen Breite ein Mehrfaches der Taktperiode der Daten umfasst.“

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie das Streitpatent nur noch beschränkt verteidigt, indem im erteilten Patentanspruch 1 das Wort „mindestens“ sowie die letzten beiden Spiegelstriche und Patentanspruch 2 vollständig gestrichen werden sollen. Die Klägerin, die ihre eigene Berufung zurückgenommen hat, tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Entscheidungsgründe

I. Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zur Sendung von Fernsehsignalen.

1. Nach der Beschreibung im Streitpatent ist bekannt, dass Fernsehsignale im Breitbildformat 16:9 gemäß der zum Prioritätszeitpunkt in Aussicht genommenen PALplus-Norm kompatibel zur damals gültigen PAL-Norm so übertragen werden, dass sie in herkömmlichen Fernsehempfängern mit dem Bildformat 4:3 als „Letterbox-Bild“ mit schwarzen Balken am oberen und unteren Bildrand wiedergegeben werden können. Damit Fernseher mit Bildschirmen im 16:9-Format aus dem Letterbox-Signal das ursprüngliche Fernsehsignal mit einer erhöhten Bildauflösung generieren können, wird für die Zeilen der schwarzen Balken der Schwarzwert angehoben, so dass in diesen Zeilen weitere Bildinformationen übertragen werden können.
Der Erfindung liegt die Aufgabe zugrunde, mit dem Fernsehsignal Informationen zur jeweils übertragenen Signalart auf eine den bisherigen Standard möglichst wenig berührende Weise mit zu übertragen.

2. Zur Lösung schlägt Patentanspruch 1 in der im Berufungsverfahren verteidigten Fassung ein Verfahren vor, dessen Merkmale sich wie folgt gliedern lassen (Gliederungsziffern gemäß dem patentgerichtlichen Urteil, jedoch mit teilweise entsprechend dem technischen Ablauf geänderter Abfolge):
1. Das Verfahren ist zum kompatiblen Übertragen einer Signalart-Zusatzinformation (106) in Zeilen eines Fernsehsignals geeignet.
1.1 Die Signalart-Zusatzinformation wird in Zeilen des Fernsehsignals übertragen, die nicht zum vertikalen Rücklauf gehören.
3a. Die Signalart-Zusatzinformation wird in der von Bildsignalen freien Hälfte der ersten aktiven Bildzeile von Fernsehbildern übertragen oder
3b. die Signalart-Zusatzinformation wird in der von Bildsignalen freien Hälfte der letzten aktiven Bildzeile von Fernsehbildern übertragen.
2. Die Signalart-Zusatzinformation    ist in verbesserten 16:9-Empfängern auswertbar.
4. Als Signalart-Zusatzinformation wird ein Datenpaket übertra
4.1 Das Datenpaket enthält Einlauf-, Start- und Nutzinfor-mationsdaten.
4.2 Die Einlaufinformationsdaten dienen empfangsseitig für die phasenrichtige Rückgewinnung des Datentaktes der Nutzinformationsdaten.
4.3 Die Startinformationsdaten dienen zur Adressierung der Nutzinformationsdaten sowie zur selektiven Erfassung des Beginns der Nutzinformationsdaten.
5. Die Signalart-Zusatzinformation umfasst die beiden folgenden Fernseh-Signalarten:
5.1 Standard-Signal, das kein Letterbox-Signal ist und keine Bild-Zusatzinformationen enthält,
5.2 Letterbox-Signal ohne Bild-Zusatzinformationen.

3. Im Hinblick auf zwei Merkmale bedarf der Patentanspruch näherer Erläuterung:

a) Merkmal 1 ist dahin zu verstehen, dass bei einem kompatibel übertragenen Fernsehsignal das Fernsehbild sowohl von herkömmlichen Fernsehgeräten gemäß dem alten PAL-Standard im Bildformat 4:3 als auch von neueren Fernsehgeräten im Breitbildformat 16:9 nach dem PALplus-Standard wiedergeben werden können.

b) Die Merkmale 3a und 3b beschreiben konkret, an welchen Stellen im übertragenen Fernsehbild die Signalart-Zusatzinformation übertragen werden kann, und bestimmen damit Merkmal 1.1 näher. Gemäß dem zum Prioritätszeitpunkt etablierten PAL-Standard werden die Fernsehbilder im Zeilensprungverfahren mit zwei Halbbildern übertragen, indem in jedem Halbbild von einer Zeile jeweils zur übernächsten Zeile gesprungen und die übersprungenen Zeilen jeweils vom nächsten Halbbild übertragen werden. Dabei beginnt das erste Halbbild in dessen erster Zeile erst in der Mitte der Zeile, so dass deren erste Hälfte frei bleibt, und im zweiten Halbbild endet die letzte Zeile bereits in der Mitte, so dass deren zweite Hälfte frei bleibt.

II. Das Patentgericht hat die Neuheit des Gegenstands von Patentanspruch 1 in der von der Beklagten bereits in erster Instanz als ersten Hilfsantrag verteidigten Fassung verneint.

Das Streitpatent habe nur einen Zeitrang vom 9. April 1992; es könne die Priorität der NK4 nicht wirksam in Anspruch nehmen. Die NK4 betreffe nicht dieselbe Erfindung. Unter anderem gehe eine Signalart-Zusatzinformation für die Signalart „Letterbox ohne Zusatzinfo“ (Merkmal 5.2) aus der NK4 nicht hervor.

Die europäische Patentanmeldung 555 918 (NK18) sei für die Neuheitsprüfung gemäß Art. 89 iVm Art. 54 Abs. 3 EPÜ zu berücksichtigen, weil sie wirksam die Priorität der vor dem Streitpatent angemeldeten europäischen Patentanmeldung 92 200 407.2 (NK19) beanspruche. Dem stehe nicht entgegen, dass die in NK19 formulierten Patentansprüche einen anderen Gegenstand definierten als die in der NK18 formulierten Patentansprüche. Entscheidend sei vielmehr, dass der Gegenstand der NK18, soweit er im Streitfall für den Neuheitsvergleich herangezogen werde, von dem gesamten Offenbarungsgehalt der NK19 einschließlich seiner Ausführungsbeispiele mit umfasst gewesen sei.

Die NK18 nehme sämtliche Merkmale des Patentanspruchs 1 sowohl in der erteilten als auch in der – nunmehr im Berufungsverfahren allein, in erster Instanz noch hilfsweise – verteidigten Fassung vorweg.

Die NK18 befasse sich mit Zusatzsignalen in einer PALplus-Systemumgebung zur Übertragung von Steuerdaten in Form von Steuerbits. Als Beispiele für solche Systemparameter benenne sie explizit unter anderem das Bildverhältnis (4:3 oder 16:9), ob es sich um ein PALplus-Signal oder ein Standard-PAL-Signal handele und ob die „schwarzen Balken“ bei Übertragung eines 16:9-Bildes als 4:3-Bild-Videoinformationen zur Erhöhung der vertikalen Auflösung enthielten. Diese Steuerbits stellten gemäß ihrer Funktion Signal-Zusatzinformationen dar, die nach der weiteren Beschreibung der NK18 in der freien Hälfte der ersten aktiven Zeile eines PAL-Fernsehbildes zu übertragen seien (Merkmale 1.1, 3a) und von einem verbesserten 16:9-Empfänger ausgewertet werden könnten (Merkmal 2). Mit dem Vorschlag, die Signal-Zusatzinformationen an einem standardgemäß freien Platz der Bildzeile zu übertragen, werde dem Fachmann eine zum normalen PAL-Fernsehsignal kompatible Übertragungsmöglichkeit mitgeteilt (Merkmal 1). Die Signal-Zusatzinformation werde als Bit-Sequenz und somit als Datenpaket übertragen (Merkmal 4). Gemäß der Beschreibung der NK18 könne diese Bit-Sequenz eine Präambel aufweisen mit einem Trainingssignal für die Datensynchronisation zur phasenrichtigen Rückgewinnung im Empfangsgerät (Merkmal 4.2). Weiterhin enthalte die Präambel eine Sequenz zur präzisen Lokalisierung des ersten Datenbits im PALplus-Steuersignal, die damit der Adressierung und der selektiven Erfassung der Nutzinfomationsdaten diene (Merkmal 4.3). Daraus ergebe sich ein Datenpaket mit Einlauf-, Start- und Nutzinformationsdaten (Merkmal 4.1).

Mit der übertragenen Signalart-Zusatzinformation erhalte das Empfangsgerät Informationen über Fernsehsignalarten (Merkmal 5), wie über das Bildformat (4:3 oder 16:9), womit das Empfangsgerät ein Standard-PAL-Signal im Bildformat 4:3 erkennen könne (Merkmal 5.1). Weiterhin werde im Falle des Letterbox-Signals die Zusatzinformation übertragen, ob die bei einem 16:9- Format mitübertragenen „schwarzen“ Letterbox-Balken Videoinformationen enthielten. Der Fachmann erkenne, dass damit auch angezeigt werde, wenn dies nicht der Fall sei, die Zeilen der schwarzen Balken mithin keine Videoinformationen enthielten. Folglich kennzeichne diese Signalart-Zusatzinformation unmittelbar auch ein Letterbox-Signal ohne Bild-Zusatzinformationen (Merkmal 5.2).

III. Dies hält der Nachprüfung im Berufungsverfahren stand.

1. Im Ergebnis zu Recht weist das Patentgericht dem Streitpatent den Zeitrang seiner Anmeldung vom 9. April 1992 zu. Das Streitpatent kann die Priorität der deutschen Voranmeldung (NK4) vom 18. April 1991 nicht in Anspruch nehmen.

a) Gemäß Art. 87 Abs. 1 EPÜ kann die Priorität einer früheren Anmeldung nur dann in Anspruch genommen werden, wenn diese dieselbe Erfindung betrifft. Dies setzt voraus, dass die mit der späteren Anmeldung beanspruchte Merkmalskombination dem Fachmann in der früheren Anmeldung in ihrer Gesamtheit als zu der angemeldeten Erfindung gehörend offenbart ist (BGH, Urteil vom 11. September 2001 – X ZR 168/98, BGHZ 148, 383, 391 – Luftverteiler). Für die Beurteilung der identischen Offenbarung gelten die Prinzipien der Neuheitsprüfung (BGH, Urteil vom 14. Oktober 2003 – X ZR 4/00, GRUR 2004, 133, 135 – Elektronische Funktionseinheit; Urteil vom 14. August 2012 – X ZR 3/10, GRUR 2012, 1133 Rn. 30 – UV-unempfindliche Druckplatte).

b)    Jedenfalls Merkmal 5.2 ist in dem Prioritätsdokument NK4 nicht unmittelbar und eindeutig offenbart.

Die Übertragung einer Signalart-Zusatzinformation für das Senden von Letterbox-Signalen ohne (Video-)Zusatzinformationen in den Zeilen der „schwarzen Balken“ wird in der NK4 nicht ausdrücklich erwähnt. Der Fachmann, den das Patentgericht zutreffend als einen Diplomingenieur der Nachrichtentechnik mit Hochschulausbildung sowie besonderen Erfahrungen und Kenntnissen in der Fernsehübertragungstechnik einschließlich der dabei zu berücksichtigenden Standardisierungsvorschriften definiert hat, vermag dieses Merkmal auch nicht der Gesamtheit der in der NK4 offenbarten Informationen und Hinweise zu entnehmen.

Soweit die NK4 zum Stand der Technik ausführt, zumindest in einer Übergangszeit würden auf einem vorhandenen Fernsehkanal sowohl herkömmliche als auch „Letterbox“-Signale übertragen, weshalb jeder Signaltyp durch eine geeignete Kennung identifizierbar sein müsse (Sp. 1 Z. 16 bis 20), entnimmt der Fachmann daraus die Anregung, solche Kennungen zu generieren. Im Sinne einer eindeutigen und unmittelbaren Offenbarung liest der Fachmann dabei jedoch nur Kennungen für Bildformate und Übertragungsmodi mit, deren Übertragung damals bereits als Standard etabliert oder formuliert war. Das Generieren von noch nicht als Standard etablierten Kennungen für andere Übertragungsformen bedarf nicht zuletzt hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit einer weiteren Überlegung des Fachmanns. Da das Senden einer Kennung für die Übertragung von 16:9-Bildformaten ohne Videozusatzinformationen in den Zeilen der schwarzen Balken zum Zeitpunkt der Anmeldung der NK4 weder zum PAL-Standard noch zum PALplus-Standard gehörte, zählt diese Kennung nicht zu denjenigen, die von der NK4 offenbart werden.

Patentanspruch 1 geht in der von der Beklagten im Berufungsverfahren verteidigten Fassung somit über den Offenbarungsgehalt der NK4 hinaus und kann die Priorität nicht in Anspruch nehmen. Inwieweit auch die weiteren vom Patentgericht angeführten Gründe einer Inanspruchnahme der Priorität entgegenstehen, kann offen bleiben.

2. Zu Recht hat das Patentgericht angenommen, dass der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der im Berufungsverfahren verteidigten Fassung nicht neu ist. Die NK18 offenbart diesen Gegenstand mit einem früheren Zeitrang.

a) Der NK18 kommt gemäß Art. 89 EPÜ der von ihr in Anspruch genommene Zeitrang der NK19 zu.

aa) Beide Druckschriften stimmen weitestgehend überein. Insbesondere was die vom Patentgericht herangezogenen Beschreibungen anbelangt, aus denen das Patentgericht die Übereinstimmung mit dem Gegenstand des Streitpatents abgeleitet hat, sind der Wortlaut der NK18 und der Wortlaut der NK19 praktisch identisch. In beiden Druckschriften wird, wie auch die Beklagte zuletzt nicht mehr in Abrede gestellt hat, dieselbe Erfindung offenbart.

bb) Der Inanspruchnahme der Priorität steht nicht entgegen, dass Teile des Offenbarungsgehalts der NK18 nicht in den in der NK19 formulierten Ansprüchen enthalten sind. Für die Priorität reicht es gemäß Art. 88 Abs. 4 EPÜ aus, dass entsprechende Ausführungen in der Beschreibung der NK19 enthalten sind, denn maßgeblich ist der gesamte Inhalt der Voranmeldung.

cc) Die ältere Anmeldung ist zu einem Zeitpunkt veröffentlicht worden, zu dem sie noch anhängig war. Damit ist sie für die Neuheitsprüfung gemäß Art. 54 Abs. 3 EPÜ zu berücksichtigen, auch wenn die Anmeldung seit 1996 wegen Nichtzahlung einer Jahresgebühr als zurückgenommen gilt. Eine ältere Anmeldung ist wegen ihrer Rücknahme, Zurückweisung oder Erledigung durch Nichtzahlung der Jahresgebühr nur dann nicht mit ihrem Prioritätstag zu berücksichtigen, wenn sie infolgedessen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht mehr anhängig war (vgl. Benkard/Mellulis, EPÜ, 2. Aufl., Art. 54 Rn. 201 a; Benkard/Mellulis, PatG, 10. Aufl., § 3 Rn. 74c; Busse/Keukenschrijver, PatG, 7. Aufl., § 3 Rn. 147; Schulte/Moufang, PatG, 9. Aufl., § 3 PatG/Art. 54 EPÜ Rn. 78; Singer/Stauder/Heusler, EPÜ, Art. 54 Rn. 114; BPatGE 33, 171, 173 f.; siehe auch EPA-JBK vom 9. Dezember 1981 – J 05/81, ABl. 1982, 155, 157). Wird die Anmeldung nach ihrer Veröffentlichung zurückgenommen, fällt damit zwar auch die Möglichkeit einer Doppelpatentierung weg. Dies rechtfertigt aber kein einschränkendes Verständnis des Art. 54 Abs. 3 EPÜ, der kein Doppelpatentierungsverbot formuliert, sondern zum Stand der Technik den ­ gesamten ­ Inhalt einer älteren nachveröffentlichten europäischen Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zählt. Schon die Entscheidung des Europäischen Patentübereinkommens für die Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Anmeldung („whole content approach“) und gegen die vom Straßburger Übereinkommen in Art. 4 Abs. 3 und Art. 6 eröffnete Möglichkeit, auf die Ansprüche der früheren Anmeldung abzustellen („prior claim approach“), macht deutlich, dass die (umfassende) Berücksichtigung älterer Anmeldungen bei dem für die Neuheitsprüfung maßgeblichen Stand der Technik nicht nur dazu bestimmt ist, einer Doppelpatentierung vorzubeugen. Sie soll auch den Erstanmelder vor einer Einschränkung seiner wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit durch die Erteilung eines Patents auf die von ihm offenbarte Erfindung aufgrund einer späteren Anmeldung eines Dritten schützen (vgl. zu § 3 Abs. 2 PatG: BT-Drucks. 7/3712 S. 29 li. Sp.). Dieser Schutzzweck verliert nicht an Bedeutung, wenn der ältere Anmelder sich nach der Veröffentlichung seiner Anmeldung entscheidet, die Anmeldung zurückzunehmen und damit die Erfindung für die Allgemeinheit freizugeben, deren technisches Wissen durch die erneute Offenbarung einer ihr bereits zur Verfügung stehenden technischen Lehre nicht bereichert wird.

b)    Die NK18 betrifft ein erweitertes Fernsehsignal mit Steuerdaten zum Steuern eines erweiterten Fernsehdecoders.

aa) Wie das Patentgericht zutreffend ausgeführt hat, offenbart die NK18 die Merkmale 1 bis 5.1 (ohne das alternative Merkmal 3b). Dies wird von der Berufung auch nicht in Frage gestellt.

bb) Für das verbleibende Merkmal 5.2 gilt nichts anderes.

Die Beschreibung der NK18 offenbart weiterhin:

„In the PALplus system, some control bits have to be transferred from the transmitter to the receiver, which indicate important system parameters such as, for example the aspect ratio (4:3 or 16:9), … , whether the video signal is a PAL plus signal or a standard PAL signal, whether the „black bars“, which result when a 16:9 aspect ratio picture is transmitted within a 4:3 aspect ratio picture, contain video information to increase the vertical resolution …“  (Sp. 3 Z. 21 – 33).

Dem ist unmittelbar und eindeutig zu entnehmen, dass in dem offenbarten Übertragungssystem Steuerbits vorgesehen sein können, die nicht nur unterscheiden, ob es sich bei dem übertragenen Signal um ein PALplus-Signal oder ein Standard-PAL-Signal handelt. Für Letzteres bedürfte es – wie dem Fachmann offensichtlich ist – nur einer der drei genannten, in den Steuerbits codierten Informationen.

Eine offenbarte Lehre ist aus fachmännischer Sicht grundsätzlich als ein sinnvolles Ganzes zu verstehen; ihre Aussagen sollen weder zu einem widersprüchlichen noch zu einem sinnlosen Bedeutungsgehalt führen (vgl. BGH Urteil vom 12. Mai 2015 – X ZR 43/13, GRUR 2015, 875 Rn. 16 – Rotorelemente). Die beiden anderen mit Steuerbits codierten Informationen zum Bildseitenverhältnis und zu den Videozusatzinformation in den Zeilen der schwarzen Balken ergeben nur einen Sinn, wenn hiermit auch Modi ermöglicht werden, die weder vollständig dem Standard-PAL-Signal mit einem Bild im Bildverhältnis 4:3 noch vollständig dem PALplus-Signal mit einem Bild im Bildverhältnis 16:9 und Videozusatzinformationen in den Zeilen der schwarzen Balken entsprechen. Daraus ergibt sich für die dritte in den Steuerbits codierte Information, dass mit den beiden möglichen Werten „0“ und „1“, die ein Steuerbit annehmen kann, angezeigt wird, ob bei einem 16:9-Bild in einer 4:3-Bildübertragung die Zeilen in den schwarzen Balken Videozusatzinformationen enthalten oder nicht.

Soweit die Beklagte meint, die Lehre der NK18 bleibe an der erörterten Stelle entsprechend den zitierten einleitenden Worten „In the PALplus system“ diesem System verhaftet und stehe einem Verständnis entgegen, das aus diesem System herausführe, entspricht dies nicht dem Bedeutungsgehalt der Offenbarung. Die dritte Information bezieht sich ausdrücklich auf den Fall, dass ein 16:9-Bild mit schwarzen Balken in einem 4:3-Bildformat übertragen wird. Für diesen Fall soll die Information gegeben werden, ob in den Zeilen der schwarzen Balken Videozusatzinformationen enthalten sind. Die Information wäre für diesen Fall bedeutungs- und sinnlos, wenn damit nicht auch das Gegenteil angezeigt werden können soll, also ein 16:9-Bild mit schwarzen Balken in einem 4:3-Bildformat ohne Videozusatzinformationen. Denn sonst wäre das Steuerbit für diese Information bei einer PALplus-Übertragung immer auf „1“ für „ja“ zu setzen, während bei einer Standard-PAL-Übertragung das Steuerbit auf „0“ zu setzen und dieser letztere Fall im Übrigen vom Empfänger nicht auszuwerten wäre. Das Steuerbit wäre damit synchron zum Steuerbit der zweiten Information (PALplus oder Standard-PAL) und redundant. Ebenso wäre auch die erste in den Steuerbits codierte Information (4:3- oder 16:9-Format) synchron und redundant zur zweiten Information, wenn ein 16:9-Bild immer nur im PALplus-Format übertragen würde. Da für eine solche Redundanz kein Sinn ersichtlich ist, zeigt die Aufzählung der drei oben dargestellten, in Steuerbits codierten Informationen dem Fachmann, dass mit diesen Informationen Fernsehbildübertragungsmodi gekennzeichnet werden können, die weder einem 4:3-Standard-PAL-Bild noch einem 16:9-PALplus-Bild vollständig entsprechen. Dazu gehört, dass mit den Steuerbits auch die Verneinung der dritten Information signalisiert werden soll, mithin der Umstand, dass die schwarzen Balken bei einem 16:9- Bild in einem 4:3-Übertragungsformat keine Videozusatzinformationen enthalten (Merkmal 5.2).

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG, § 92 Abs. 1, § 97 Abs. 1, § 516 Abs. 3 ZPO.

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