Friedliche Demo darf von der Polizei nicht gefilmt werden

12. August 2010
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Eigener Leitsatz:

Die Polizei darf eine friedliche Demonstration auch dann nicht filmen, wenn dies bloß zur Lenkung und Leitung des Einsatzes geschieht und die Aufnahmen nicht gespeichert werden. Auch eine solche Vorgehensweise stellt einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Ohne entsprechende Rechtsgrundlage ist eine solche Videoüberwachung rechtswidrig.

Verwaltungsgericht Berlin

Urteil vom 05.07.2010

Az.: VG 1 K 905.09

Im Namen des Volkes

In der Verwaltungsstreitsache
(…), Kläger,
Verfahrensbevollmächtigte zu 1. und 2.:

g e g e n

das Land Berlin,a
vertreten durch den Polizeipräsidenten in Berlin,
Stab PPr – Stab 6 -,
Platz der Luftbrücke 6, 12096 Berlin,
Beklagten,

hat das Verwaltungsgericht Berlin, 1. Kammer, auf die mündliche Verhandlung am 5. Juli
2010 durch

den Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichts (…),
den Richter am Verwaltungsgericht (…),
den Richter (…),
den ehrenamtlichen Richter (…) und (…),
die ehrenamtliche Richterin (…)

für Recht erkannt:

Es wird festgestellt, dass die Überwachung des Aufzuges am 5. September 2009 vom Hauptbahnhof zum Brandenburger Tor durch den Beklagten mittels Bildaufnahmegeräten (Video- bzw. Filmkameras) rechtswidrig war.

Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

Die Klägerin zu 1.) ist eine Bürgerinitiative, welche sich für einen Ausstieg aus der Atomenergie und gegen die Endlagerung von Atommüll in Gorleben einsetzt. Sie wendet sich im Wege der Feststellungsklage gegen das Erstellen von Übersichtsaufnahmen während einer Versammlung, an der auch der Kläger zu 2.) teilnahm.

Am 5. September 2009 veranstaltete die Klägerin zu 1.) zusammen mit anderen Interessenverbänden einen Aufzug vom Hauptbahnhof zum Brandenburger Tor unter dem Motto „Mal richtig abschalten – auf nach Berlin“ mit mindestens 25.000 Teilnehmern. Der Aufzug war Teil einer größeren Veranstaltung, im Rahmen derer die Klägerin zu 1.), beginnend am 29. August 2009 in Gorleben, über mehrere Städte und Atomanlagen bis nach Berlin zog. Die Route des Aufzuges in Berlin verlief vom Washingtonplatz über die Rahel-Hirsch-Straße, Kapellstraße, Reinhardstraße, Friedrichstraße, Unter den Linden, Wilhelmstraße, Dorotheenstraße, Scheidemannstraße, Yitzhak-Rabin-Straße, Straße des 17. Juni bis hin zum Platz des 18. März, wo eine Abschlusskundgebung durchgeführt wurde. Auf der Route des Aufzuges kam es zu keinen Zwischenfällen. Die Veranstaltung verlief – wie erwartet – ruhig und friedlich.

Während des Aufzuges vom Hauptbahnhof zum Brandenburger Tor fuhren Einsatzkräfte der Polizei mit einem Kleintransporter weniger Meter vor dessen Spitze her und filmten den Aufzug mit mehreren auf dem Dach des Transporters montierten Kameras. Die so gewonnen Bilder wurden ohne Zeitverzögerung an die Einsatzleitstelle der Polizei übertragen. Der Kläger zu 2.) war Teilnehmer des Aufzuges und marschierte in der ersten Reihe und somit innerhalb des von den Kameras erfassten Bereiches. Einzelne Personen waren auf den Monitoren gut erkennbar. Auf Nachfrage des Klägers zu 2.) teilten die Polizeibeamten diesem mit, dass eine Speicherung der Aufnahmen nicht stattfinde. Am Zielort der Kundgebung wurde der Übertragungswagen so aufgestellt, dass er einen Großteil der Versammlung mit seinen Kameras abdecken konnte.

Mit der am 7. November 2009 erhobenen Klage begehren die Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit der durchgeführten Filmaufnahmen. Sie sind der Auffassung, die erhobene Klage sei als Feststellungsklage zulässig. Das hierfür erforderliche Feststellungsinteresse folge bereits aus dem Grundrechtseingriff. Zudem bestehe Wiederholungsgefahr. Die Klägerin zu 1.) wolle auch weiterhin im Raum Berlin Großdemonstrationen gegen die Nutzung der Kernenergie durchführen. Der Kläger zu 2.) wolle auch in Zukunft an derartigen Versammlungen teilnehmen.
Es entziehe sich der Kenntnis der Kläger, ob eine Speicherung der gewonnen Bilddaten erfolgt sei – es sei jedoch durchaus möglich. Es mache aus Sicht der Versammlungsteilnehmer keinen Unterschied, ob die Filmaufnahmen gespeichert oder nach dem Kamera-Monitor-Prinzip lediglich an die Einsatzleitstelle der Polizei übertragen worden seien, denn der einzelne Telnehmer könne den Unterschied nicht erkennen. Für Filmaufnahmen nach dem Kamera-Monitor-Prinzip in Fußgängerzonen sei in der Rechtsprechung anerkannt, dass dies einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstelle. Diese Erwägungen seien auf den vorliegenden Sachverhalt übertragbar. Die durchgeführten Filmaufnahmen seien eine Verletzung ihrer Grundrechte auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG), da das Filmen von Versammlungen eine einschüchternde Wirkung auf die Versammlungsteilnehmer ausübe und diese von einer Wahrnehmung ihrer Grundrechte abhalte. Eine Rechtsgrundlage für den Grundrechtseingriff sei nicht vorhanden; die Voraussetzungen der §§ 12a, 19a VersG lägen nicht vor. Ein Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht sei dem Beklagten aufgrund der „Polizeifestigkeit“ des Versammlungsrechts verwehrt. Ein praktischer Nutzen der Aufnahmen von der Spitze des Aufzuges sei nicht erkennbar, da die Kameras den gesamten Aufzug nicht hätten erfassen können; vielmehr nur dessen Frontansicht.

Die Kläger beantragen,

festzustellen, dass die Überwachung des Aufzuges am 5. September 2009 vom Hauptbahnhof zum Brandenburger Tor durch den Beklagten mittels Bildaufnahmegeräten (Video- bzw. Filmkameras) rechtswidrig war.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, dass der Aufzug der Klägerin zu 1.) lediglich nach dem Kamera-Monitor-Prinzip zur Lenkung und Leitung des Einsatzes in die Einsatzleitzentrale der Direktion 3, welche den Einsatz geführt habe, überspielt worden sei. Eine Speicherung der Daten sei nicht erfolgt. Eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage für dieses polizeiliche Vorgehen sei nicht erforderlich. Dessen praktische Notwendigkeit zur Leitung und Lenkung der  Versammlung sei unabweisbar, denn es habe sich in jedem Fall um eine herausragend große, vielseitige und unübersichtliche Veranstaltung gehandelt. Nur mittels einer LiveÜbertragung habe die Einsatzleitstelle sinnvoll den Kräfteeinsatz und die Verkehrslenkung steuern können. Diese Live-Übertragung sei im Grunde nichts anderes als das Beobachten  und Weitermelden der Gesamtlage durch Polizeibeamte vor Ort. Die Überwachung der Versammlung nach dem Kamera-Monitor-Prinzip habe deren Schutz gedient. Dass der einzelne Teilnehmer nicht erkennen könne, ob die erhobenen Bilddaten gespeichert würden, sei unerheblich, denn die polizeiliche Aufgabenwahrnehmung könne nicht einem undifferenzierten Generalverdacht weichen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf die Streitakte und den von dem Beklagten eingereichten Verwaltungsvorgang verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Klage ist als Feststellungsklage gemäß § 43 VwGO zulässig. Die Beobachtung des Klägers zu 2.) und anderer Teilnehmer einer Versammlung durch Einsatzkräfte der Polizei stellt einen Realakt dar. Da dieser sich bereits erledigt hat, kann das diesbezügliche staatliche Handeln zum Gegenstand einer Feststellungsklage gemacht werden. Das feststellungsfähige und konkrete Rechtsverhältnis i. S. d. § 43 Abs. 1 VwGO ergibt sich aus der durchgeführten polizeilichen Beobachtung des Klägers zu 2.) und anderer Teilnehmer der Versammlung. Das berechtige Interesse der Kläger nach § 43 Abs. 1 VwGO an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der durchgeführten polizeilichen Maßnahmen ist bereits durch die Möglichkeit des Eingriffs in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG begründet. Darüber hinaus erscheint es nicht fernliegend, eine Wiederholungsgefahr bezogen auf die Kläger anzunehmen, da diese vorgetragen haben, auch in Zukunft derartige Versammlungen veranstalten bzw. an ihnen teilnehmen zu wollen. Die entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis folgt ebenfalls aus der Möglichkeit eines Eingriffs in die Grundrechte der Kläger. Auch die Klägerin zu 1.) kann sich als Personenvereinigung gemäß Art. 19 Abs. 3 GG zumindest auf Art. 8 Abs. 1 GG berufen, da die Versammlungsfreiheit nicht nur individuell, sondern auch korporativ betätigt werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009 – 1 BvR 2492/08 -, BVerfGE 122, 342, 355).

Die Klage ist auch begründet. Die Überwachung des Aufzuges am 5. September 2009 vom Hauptbahnhof zum Brandenburger Tor durch den Beklagten mittels aufnahmebereiter Bildaufnahmegeräten – hier Videokameras – war rechtswidrig.

Die Beobachtung der Versammlung am 5. September 2009 mittels eines Video-Wagens der Polizei und die Übertragung der so gewonnen Bilder in Echtzeit im sog. Kamera-Monitor-Prinzip – ohne Einverständnis der Teilnehmer – stellt einen Eingriff in deren Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) dar und bedurfte somit einer Rechtsgrundlage. Ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts ist jedes staatliche Handeln, das die Ausübung bzw. Wahrnehmung des Grundrechts zumindest erschwert. Zwar wird nach dem klassischen Eingriffsbegriff unter einem Grundrechtseingriff im Allgemeinen ein rechtsförmiger Vorgang verstanden, der unmittelbar und gezielt (final) durch ein vom Staat verfügtes, erforderlichenfalls zwangsweise durchzusetzendes Ge- oder Verbot, also imperativ zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2002 – 1 BvR 670/91 -, BVerfGE 105, 279, 300). Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend, ist jedoch ein moderner Eingriffsbegriff zu Grunde zu legen. Dieser moderne Eingriffsbegriff, der sich jedenfalls für die speziellen Grundrechte durchgesetzt hat, lässt für einen Eingriff jedes staatliche Handeln genügen, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht (BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2002 – 1 BvR 670/91 -, BVerfGE 105, 279, 299 – 301).
Daran gemessen stellt die Beobachtung der Versammlung im Kamera-Monitor-Verfahren einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Denn wenn der einzelne Teilnehmer der Versammlung damit rechnen muss, dass seine Anwesenheit oder sein Verhalten bei einer Veranstaltung durch Behörden registriert wird, könnte ihn dies von einer Teilnahme abschrecken oder ihn zu ungewollten Verhaltensweisen zwingen, um den beobachtenden Polizeibeamten möglicherweise gerecht zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Februar 2007 – 1 BvR 2368/06 –, DVBl 2007, 497 – 502). Durch diese Einschüchterung der Teilnehmer könnte mittelbar auf den Prozess der Meinungsbildung und demokratischen Auseinandersetzung eingewirkt werden (VG Münster, Urteil vom 21. August 2009 – 1 K 1403/08 – juris Rn. 13). Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist (BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 – 1 BvR 209/83 -, BVerfGE 65, 1, 43 – Volkszählung; BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009 – 1 BvR 2492/08 –, BVerfGE 122, 342, 369).

Es macht hier keinen Unterschied, ob die durch die Polizei gefertigten Aufnahmen auch gespeichert wurden, denn das Beobachten der Teilnehmer stellt bereits einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Das polizeiliche Handeln knüpft einzig und allein an die Wahrnehmung des Versammlungsrechts durch die Teilnehmer an. Demnach ist die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen nach dem Kamera-Monitor-Prinzip auch geeignet, bei den Teilnehmern ein Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen und diese – wenn auch ungewollt – in ihrem Verhalten zu beeinflussen oder von der Teilnahme an der Versammlung abzuhalten. Ob die Aufnahmen tatsächlich auch gespeichert wurden, kann der einzelne Versammlungsteilnehmer nicht wissen.

Die Tatsache, dass die Einsatzkräfte der Polizei in dem Übertragungswagen dem Kläger zu 2.) erklärten, es fände keine Aufzeichnung der Bilder statt, ändert nichts an der  Beurteilung der Sachlage. Zum einen wurde dies nicht allen Versammlungsteilnehmern kundgetan. Zum anderen bleibt die einschüchternde Wirkung des für alle Teilnehmer deutlich sichtbaren und ständig vorausfahrenden Übertragungswagens erhalten. Der einzelne Versammlungsteilnehmer muss ständig damit rechnen, durch eine Vergrößerung des ihn betreffenden Bildausschnittes (Heranzoomen) individuell und besonders beobachtet zu werden. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten ist dies generell möglich, so dass ein prinzipieller Unterschied zwischen Übersichtsaufnahmen und personenbezogenen Aufnahmen nicht mehr besteht (BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009 – 1 BvR 2492/08 –, BVerfGE 122, 342, 368 – 369; VG Münster, Urteil vom 21. August 2009 – 1 K 1403/08 – juris Rn. 16). Hinzu kommt, dass die technische Möglichkeit, die Übersichtsaufnahmen auch zu speichern, dem Grunde nach besteht und jederzeit mittels Knopfdruck erfolgen kann – auch versehentlich. Insofern verweist der Beklagte zu Unrecht darauf, dass hier kein Unterschied zu einem die Sachlage beobachtenden Polizeibeamten vor Ort vorliege. Dieser würde die Versammlungsteilnehmer – in der Regel abseits stehend – wohl kaum in derselben Weise irritieren, wie ein nur wenige Meter vor ihnen herfahrender Übertragungswagen, der fortlaufend mehrere Kameras auf sie gerichtet hat.

Das Beobachten der Versammlungsteilnehmer stellt ferner einen Eingriff in deren Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) dar. Dieses Grundrecht umfasst die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 – 1 BvR 209/83 -, BVerfGE 65, 1, 41 – 42 – Volkszählung). Ob sich die Klägerin zu 1.) als juristische Person auf die informationelle Selbstbestimmung als Grundrecht  berufen kann (Art. 19 Abs. 3 GG), kann dahingestellt bleiben, da zumindest der Kläger zu 2.) die Verletzung dieses Grundrechts erfolgreich rügen kann. Bereits die Beobachtung der Versammlungsteilnehmer im Kamera-Monitor-Verfahren, ohne eine Speicherung der Daten, stellt einen Eingriff dar, denn die Beobachtung, Auswertung und Speicherung der Daten stellt aus der Sicht der betroffenen Versammlungsteilnehmer einen einheitlichen Lebenssachverhalt dar (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 8. Mai 2009 – 16 A 3375/07 – juris Rn. 39 – Videoüberwachung einer Universitätsbibliothek). Es besteht jederzeit die Möglichkeit, ohne weiteres von der Übersichtsaufnahme in die Nahaufnahme überzugehen und somit den Einzelnen individuell zu erfassen. Durch die so aufwandslose Möglichkeit der Erhebung personenbezogener Daten liegt eine faktische Beeinträchtigung des grundrechtlichen Schutzgegenstandes vor, die einer Grundrechtsgefährdung als Eingriff gleichkommt (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Juli 2003 – 1 S 377/02 –, NVwZ 2004, 498 – 507 (500) – Videoüberwachung im öffentlichen Verkehrsraum; VG Sigmaringen, Beschluss vom 2. April 2004 – 3 K 1344/04 – juris Rn. 27 – Videoüberwachung eines Volksfestes; Roggan, Die Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen – Oder: Immer mehr gefährliche Orte für Freiheitsrechte, NVwZ 2001, 134, 136; zur Grundrechtsgefährdung als Eingriff vgl. Sachs in: ders., GG, 5. Aufl. 2009, Vor Art. 1 RdNr. 95 m.w.N.).

Da die Beobachtung der Versammlung vom 5. September 2009 sowohl einen Eingriff in den Schutzbereichs der vorrangigen Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG als auch in den der informationellen Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG darstellt, bedurfte es zu dessen Rechtfertigung einer gesetzlichen Grundlage, aus der nachvollziehbar und klar der Umfang der Beschränkungen erkennbar ist. Eine solche Rechtsgrundlage ist nicht vorhanden.

Von der im Zuge der Föderalismusreform auf die Länder übergegangenen Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht (vgl. das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006, BGBl I S. 2034) hat das Land Berlin bisher keinen Gebrauch gemacht. Als Rechtsgrundlage für die Videobeobachtung der Versammlung am 5. September 2009 kommt somit lediglich § 12a Abs. 1 S. 1 des Versammlungsgesetzes (VersG) i.V.m. § 19a VersG in Betracht. Danach darf die Polizei Bild- und Tonaufnahmen von Teilnehmern bei oder im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen nur  anfertigen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Nach § 12a Abs. 1 S. 2 VersG dürfen die Maßnahmen auch durchgeführt werden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, da zum Zeitpunkt des Aufzuges keine tatsächlichen Anhaltspunkte erkennbar waren, dass von den Versammlungsteilnehmern erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgingen. Eine Gefahrenprognose im Vorfeld des Aufzuges am 5. September 2009 in Berlin, welche ein polizeiliches Eingreifen erforderlich gemacht hätte, ist nicht ersichtlich. Der Beklagte selbst trägt vor, der Aufzug sei friedlich und störungsfrei verlaufen. Dass es im Voraus zu einigen Zusammenstößen mit der Polizei am Schacht Asse oder in Morsleben kam, ändert hieran nichts. Ob dies der Klägerin zu 1.) zugerechnet werden kann, mag dahingestellt bleiben. Diese Zusammenstöße mit der Polizei betrafen – wie von dem Beklagten zutreffend formuliert – „Reizobjekte.“ Eine derartige Gefährdungslage bestand innerhalb Berlins ohnehin nicht. Der von dem Beklagten dokumentierte und mittels Videokamera aufgezeichnete Vorfall am Sowjetischen Ehrenmal, wo eine unbekannte Person selbiges bestiegen hatte, datierte vom 29. August 2009 und betraf offenbar eine andere Veranstaltung. Ein möglicher Hausfriedensbruch durch eine Einzelperson wäre überdies nicht geeignet, ein polizeiliches Einschreiten gegen die gesamte Versammlung zu rechtfertigen. Auch der Beklagte selbst sieht den Vorfall am Sowjetischen Ehrenmal nicht im Zusammenhang mit dem Aufzug der Klägerin zu 1.). Darüber hinaus war die Beobachtung des Aufzuges durch die Polizei nicht auf Gefahrenabwehr gerichtet. Der Beklagte selbst trägt vor, keine Gefahrenlage erkannt zu haben, sondern lediglich Übersichtsaufnahmen zum Zwecke der Lenkung und Leitung in die Einsatzleitstelle übertragen zu haben. Daran muss er sich messen lassen.

Andere Rechtsgrundlagen für das polizeiliche Handeln sind nicht ersichtlich. Der Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht des Landes Berlin zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit ist nicht möglich (BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 2004 – 1 BvR 1726/01 -, NVwZ 2005, 80 – 81; BVerwG, Urteil vom 21. April 1989 – 7 C 50.88 -, BVerwGE 82, 34, 38; VGH Mannheim, Urteil vom 26. Januar 1998 – 1 S 3280/96 -, DVBl 1998, 837, 839). Ein Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht wäre lediglich zum Schutz der Versammlung oder als milderes Mittel gegenüber einer tatbestandlich zulässigen Auflösung möglich. Diese Fälle liegen indes nicht vor.

Aufgrund des Eingriffscharakters des polizeilichen Handelns bedurfte dieses gemäß Art. 8 Abs. 2 GG einer gesetzlichen Grundlage. Die durch den Gesetzgeber im Zuge der Neuregelung des § 12a VersG geäußerte Auffassung, die bloße Videobeobachtung einer Versammlung – ohne eine Speicherung der Aufnahmen – sei wohl kein Grundrechtseingriff, da der Einzelne aufgrund mangelnder technischer Möglichkeiten nicht individualisierbar gemacht werden könne (BT-Drs. 11/4359, S. 17), ist mittlerweile überholt (BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009 – 1 BvR 2492/08 – , BVerfGE 122, 342, 368 – 369). Die gegenteilige Ansicht des Beklagten ist nicht zutreffend. Sein Hinweis, das polizeiliche Handeln habe im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestanden, da die vorliegende Versammlung aufgrund ihrer Größe und Unübersichtlichkeit zur Lenkung und Leitung habe überwacht werden können (BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009 – 1 BvR 2492/08 –, BVerfGE 122, 342, 372 – 373), geht fehl. Denn der maßgebliche Unterschied zu dem dort entschiedenen Fall ist der, dass das betroffene Land Bayern eine eigens die Übersichtsaufnahmen einer Versammlung gestattende gesetzliche Rechtsgrundlage im Versammlungsgesetz des Landes Bayern geschaffen hatte. Dessen Anwendbarkeit hat das Bundesverfassungsgericht sodann einstweilen auf die Fälle unübersichtlicher Großdemonstrationen beschränkt. An einer derartigen Rechtsgrundlage fehlt es jedoch im Land Berlin. Das Bundesverfassungsgericht selbst scheint die grundsätzliche Notwendigkeit einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage ebenfalls vorauszusetzen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder in elektronischer Form (Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr mit der Justiz im Lande Berlin vom 27. Dezember 2006, GVBl. S. 1183, in der Fassung der Zweiten Änderungsverordnung vom 9. Dezember 2009, GVBl. S. 881) zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht Berlin, Kirchstraße 7, 10557 Berlin zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils sind die Gründe schriftlich oder in elektronischer Form darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Hardenbergstraße 31, 10623 Berlin, einzureichen.

Vor dem Oberverwaltungsgericht müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte und Rechtslehrer an einer Hochschule im Sinn des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus können auch die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneten Personen und Organisationen auftreten. Ein als Bevollmächtigter zugelassener Beteiligter kann sich selbst vertreten. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt vertreten lassen; das Beschäftigungsverhältnis kann auch zu einer anderen Behörde, juristischen Person des öffentlichen Rechts oder einem der genannten Zusammenschlüsse bestehen. Richter dürfen nicht vor dem Gericht, ehrenamtliche Richter nicht vor einem Spruchkörper auftreten, dem sie angehören.

(Unterschriften)

Ausgefertigt

Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

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