Top-Urteil

Direktvergabe der Luca-App durch das Land Mecklenburg-Vorpommern ist rechtswidrig

19. November 2021
[Gesamt: 0   Durchschnitt:  0/5]
848 mal gelesen
0 Shares
Corona-Virus auf Smartphone Beschluss des OLG Rostock vom 11.11.2021, Az.: 17 Verg 4/21

Eine Firma, die eine App zur Kontaktnachverfolgung programmierte, ging gegen die Direktvergabe der Luca-App durch das Land Mecklenburg-Vorpommern vor. Das Gericht entschied, dass die Vergabe rechtswidrig war. Auch in den Fällen einer Notvergabe muss ein gewisses Maß an Wettbewerb gewährleistet werden. Dafür hätten so viele Angebote wie möglich eingeholt werden müssen. Dass dies aus Zeitgründen nicht möglich war, konnte nicht festgestellt werden. Auch das Argument des Antragsgegners, er habe keine weiteren Anbieter finden können, die in Frage gekommen wären, konnte entkräftet werden. Die Antragsgegnerin hatte nämlich davor bereits per E-Mail auf ihre App aufmerksam gemacht.

Oberlandesgericht Rostock

Beschluss vom 11.11.2021

Az.: 17 Verg 4/21

 

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss der 3. Vergabekammer bei dem Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern vom 03.06.2021 (Az.: 3 VK 2/21) unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen teilweise abgeändert.

Es wird festgestellt, dass der streitgegenständliche – zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen geschlossene – Vertrag vom 08.03.2021 über die Beschaffung der so genannten Luca-App unwirksam ist.

Dem Antragsgegner wird aufgegeben, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht eine Vergabe unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben durchzuführen.

2. Der Antrag des Antragsgegners auf Gestattung der Fortführung des Vertrags wird zurückgewiesen.

3. Der Antragsgegner trägt die Kosten des sofortigen Beschwerdeverfahrens vor dem Senat und des Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin. Die Beigeladene trägt ihre Kosten selbst.

4. Die Hinzuziehung rechtsanwaltlicher Bevollmächtigter durch die Antragstellerin im Verfahren vor der Vergabekammer war notwendig.

5. Der Gegenstandswert wird auf bis zu … € festgesetzt.

Gründe

I.

Im Februar 2021 beabsichtigte der Antragsgegner, den „Corona-Lockdown“ durch einzelne Öffnungsschritte abzumildern. Nach Erfahrungen mit der Kontaktnachverfolgung auf Grundlage von Anwesenheitslisten in Papierform sollten die Lockerungen von einer effektiveren Form der Kontaktnachverfolgung begleitet werden. Mit Schreiben vom 26.02.2021 (Anlage BG2, Band I Blatt 108 f. d.A.) teilte das Bundesgesundheitsministerium den Ländern mit, dass der Bund eine deutschlandweite Lösung zur elektronischen Kontaktnachverfolgung durch die Gesundheitsämter nicht zeitnah bereitstellen werde.

Der Antragsgegner recherchierte im Internet Systeme beziehungsweise Apps zur digitalen Kontaktnachverfolgung. Die Anwendung V. der Antragstellerin fand er dabei nicht, andere Produkte sah er als nicht zuschlagsfähig an. Er beschaffte daraufhin ohne Ausschreibung und ohne Einholung weiterer Angebote mit Vertrag vom 08.03.2021 das Luca-System der Beigeladenen. Dagegen wendet sich die Antragstellerin im Nachprüfungsverfahren.

Bereits zuvor hatte die Antragstellerin mit E-Mails vom 07.10.2020 an den zentralen Eingang der Staatskanzlei des Antragsgegners sowie vom 04.03.2021 an die Ministerpräsidentin unter deren persönlicher E-Mail-Adresse auf ihre Anwendung hingewiesen.

Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag mit Beschluss vom 03.06.2021 – Az.: 3 VK 2/21 –, der Antragstellerin am selben Tage zugestellt, zurückgewiesen. Sie hat den Antrag für zulässig, aber unbegründet gehalten und hierbei – u.a. – darauf abgestellt, dass nur das Produkt der Beigeladenen über eine Schnittstelle zu dem von den Gesundheitsämtern genutzten Programm SORMAS – Surveillance, Outbreak Response Management and Analysis System – verfüge. Bei dieser Sachlage habe die Beigeladene unmittelbar beauftragt werden dürfen, zumal die Sache gesteigert eilbedürftig gewesen sei. Für die näheren Einzelheiten des im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer von den Beteiligten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Vorgebrachten sowie den Inhalt der dort gestellten Anträge wird auf den vorbezeichneten Beschluss Bezug genommen.

Mit ihrer am selben Tage bei dem hiesigen Oberlandesgericht eingegangenen Beschwerde vom 16.06.2021 verfolgt die Antragstellerin ihr Rechtschutzziel aus dem Nachprüfungsverfahren weiter. Insbesondere macht sie geltend, im Zeitpunkt der Auftragsvergabe seien keine Lockerungen möglich gewesen. Schon aus diesem Grund habe es an der Eilbedürftigkeit gefehlt. Für die Vergabevoraussetzungen könne es im Übrigen nicht auf den subjektiven Kenntnisstand der Vergabestelle ankommen; entscheidend sei allein, ob die jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen objektiv vorgelegen hätten. Abgesehen davon stelle sich letztlich als Ergebnis unzureichender Prüfung im Rahmen der Markterkundung dar, dass der Antragsgegner die Mängel der Luca-App nicht erkannt und die V.-App nicht berücksichtigt habe. Ihr Produkt werde bei Eingabe des Suchbegriffs „Kontaktnachverfolgung“ bei Google an „prominenter Stelle“ ausgeworfen. Auch die E-Mails stellten einen hinreichenden Hinweis dar. Welche Stelle innerhalb der Landesverwaltung konkret für den hier in Rede stehenden Beschaffungsvorgang zuständig gewesen sei, habe die Antragstellerin nicht gewusst und auch nicht wissen müssen. Zu Unrecht habe die Vergabekammer nicht darauf abgestellt, ob die zu beschaffende App in der Lage sei, Anmeldungen mit falschen Identitäten oder Scherzanmeldungen zu filtern. Es möge sein, dass dies tatsächlich nicht Gegenstand des Anforderungsprofils gewesen sei. Ein Anforderungsprofil, das diesen Punkt nicht inkludiere, sei indes seinerseits mit den gesetzlichen Vorgaben – § 28a Abs. 4 IfSG – unvereinbar. Eine Umstellung auf ein zentrales Finanzierungssystem sei jederzeit unproblematisch möglich gewesen. Kein mit der Antragstellerin bereits vertraglich verbundener Veranstalter würde sich dem Ansinnen widersetzt haben, unabhängig von etwaigen Kündigungsfristen Aufhebungsverträge mit der Antragstellerin zwecks vorzeitiger Vertragsbeendigung abzuschließen, in deren Ergebnis er keine weitere Vergütung an die Antragstellerin zu zahlen hätte, deren Software aber gleichwohl – nunmehr landesfinanziert – nahtlos weiternutzen könnte. Soweit in Bezug auf die App der Antragstellerin ein möglicher Datenzugriff des jeweiligen Veranstalters moniert worden sei, erschließe sich diese Kritik nicht. Immerhin seien die jeweiligen Veranstalter – Gastwirte usw. – „Verantwortliche“ i. S. v. Art. 4 Nr. 7 DSGVO. Von daher sei eine Software, bei der der Veranstalter die Daten seiner Besucher zur Kenntnis nehmen kann, nicht nur datenschutzrechtlich unbedenklich. Vielmehr sei umgekehrt ein Ausschluss des Veranstalters von diesen Daten mit Blick auf die Verantwortlicheneigenschaft des Veranstalters unionsrechtswidrig. Für die weiteren Einzelheiten des Beschwerdevorbringens wird Bezug genommen auf die Beschwerdeschrift vom 16.06.2021 (Band I Blatt 18 ff. d.A.) sowie die weiteren Schriftsätze der Antragstellerin vom 04.08.2021 (Band I Blatt 163 ff. d.A.), 05.09.2021 (Band II Blatt 3 ff. d.A.) und 11.10.2021 (Band II Blatt 65 ff. d.A.).

Die Antragstellerin beantragt,

1. unter Aufhebung der Entscheidung der Vergabekammer vom 03.06.2021 – Az.: 3 VK 2/21 – festzustellen, dass der Vertrag zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen über eine IT-Infrastruktur zur digitalen Kontaktnachverfolgung aus März 2021 gemäß § 135 Abs. 1 GWB unwirksam ist;

2. unter Aufhebung der vorbezeichneten Entscheidung weiter festzustellen, dass der Antragsgegner gegen vergaberechtliche Vorschriften verstoßen hat, indem er den vorbezeichneten Vertrag in einem Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben hat;

3. dem Antragsgegner aufzugeben, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht ein geregeltes wettbewerbliches Vergabeverfahren durchzuführen;

4. dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlichen Aufwendungen der Antragstellerin aufzuerlegen und die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten durch die Antragstellerin für notwendig zu erklären.

Der Antragsgegner beantragt,

1. die Beschwerde zurückzuweisen;

2. hilfsweise ihm zu gestatten, den Vertrag mit der Beigeladenen fortzuführen, bis er im Rahmen einer Ersatzbeschaffung einen neuen Auftragnehmer gebunden hat;

3. der Antragstellerin die Kosten des Beschwerdeverfahrens aufzuerlegen und die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten durch den Antragsgegner für notwendig zu erklären.

Der Antragsgegner verteidigt den angefochtenen Beschluss. Die Luca-App weise bis heute eine Alleinstellung am Markt auf. Umgekehrt sei das Produkt der Antragstellerin nicht beschaffungsfähig gewesen. Sockellockerungen in Abhängigkeit von den jeweiligen Inzidenzen ab dem 01.03.2021 bzw. 08.03.2021 seien ungeachtet der so genannten dritten Welle im Frühjahr 2021 politisch aktuell und auch rechtlich zulässig geblieben. Am 24.02.2021 habe die Inzidenz in allen Kreisen und kreisfreien Städten des Landes unter 150 gelegen, in Rostock und Vorpommern-Rügen sogar deutlich unter 50. Ende Februar 2021 sei noch offen gewesen, ob der Bund ein zentrales so genanntes Gateway zur Verfügung stellen würde, mit dem die einzelnen Bundesländer, darunter der Antragsgegner, verschiedene am Markt erhältliche Apps auch ohne eigene SORMAS-Anbindung beschaffen und in die Kontaktnachverfolgung durch ihre Gesundheitsämter einbinden hätten können. Erst aufgrund des Schreibens des Bundesgesundheitsministeriums vom 26.02.2021 habe der Antragsgegner ein weiteres Tätigwerden des Bundes nicht abwarten können und sei gehalten gewesen, selbst kurzfristig ein unmittelbar einsatzfähiges – SORMAS-kompatibles – Kontaktnachverfolgungssystem zu beschaffen. Dabei habe nur die von der Beigeladenen entwickelte Luca-App seinerzeit die Mindestanforderungen für die Beschaffung erfüllt. Für die Beurteilung dieser Frage könne es auch nur auf den damaligen Zeitpunkt ankommen, nicht auf spätere Entwicklungen oder Erkenntnisse. Die Anforderungen seien auch willkür- und sonst beanstandungsfrei aufgestellt worden. Sie würden sich aus dem in der letzten Februarwoche des Jahres 2021 manifestierten Beschaffungsbedarf ergeben. Eine künstliche Einengung von Auftragsvergabeparametern sei nicht gegeben.

Das Produkt der Antragstellerin habe die Mindestanforderungen des Antragsgegners in mehrfacher Hinsicht nicht erfüllt. Es habe sich erstens schon nicht um eine bereits vorhandene Lösung gehandelt. Zweitens sei das System der Antragstellerin nicht in der Lage gewesen, eine korrekte Kontaktnachverfolgung sicherzustellen. Das Produkt der Antragstellerin sei auf eine Kontaktnachverfolgung durch die jeweiligen Veranstalter zugeschnitten, nicht auf eine solche durch die Gesundheitsämter. Noch Mitte April 2021 habe die Antragstellerin ihr Produkt auf ihrer Webseite wörtlich dahingehend beworben, dass das Programm „Unternehmen, dem Einzelhandel, den Gastronomen (…) die Möglichkeit“ gebe, „Kunden- und Besucherverkehr zu kontrollieren und zu regulieren“. Der Antragsgegner habe aber ein System gesucht, bei dem die Verantwortlichkeit für die Kontaktnachverfolgung bei den Gesundheitsämtern liege, nicht bei den Veranstaltern. Eine weitere Voraussetzung sei gewesen, dass das System eine zentrale Steuerung bei dezentraler Nutzung zulasse. Ausweislich der erwähnten Werbeinhalte sei das Produkt der Antragstellerin hingegen auf eine dezentrale Steuerung durch die jeweiligen Veranstalter angelegt. Eine ausschließlich zentrale Steuerung der Prozesse durch die Landesverwaltung, wie „Luca Gesundheitsamt“ sie ermögliche, lasse die V.-App nicht zu. V. erfülle auch nicht die Mindestanforderungen einer zentralen Datenspeicherung. Allein die Luca-App Stelle eine zentrale Datenspeicherung in der Form sicher, dass gewährleistet sei, dass die zur Kontaktnachverfolgung gespeicherten Daten nur im Infektionsfall, nur dem zuständigen Gesundheitsamt und nur nach erneuter vorheriger Freigabe durch die infizierte Person und die sodann jeweils angefragten Veranstalter offengelegt werden. Im Unterschied zur Beigeladenen habe die Antragstellerin eine entsprechende Benutzeroberfläche seinerzeit erst programmieren müssen. Um eine Dateneinsicht allein des Gesundheitsamts und allein im Infektionsfall sicherzustellen, wie es der Antragsgegner im Sinne zwingender Mindestanforderungen verlangt habe, sei hinsichtlich des Produkts der Antragstellerin eine vollständige Umprogrammierung erforderlich gewesen. Auch die Vorgaben des Antragsgegners zum Datenschutz habe die V.-App nicht erfüllen können. Es habe gerade ausgeschlossen werden sollen, dass Bewegungsprofile erstellt werden. Genau hierauf habe die Software der Antragstellerin aber abgezielt, weil es ja ausweislich der Bewerbung im Internet – wie oben zitiert – darum gegangen sei, den Veranstaltern eine Kontrolle und Regulierung des Kunden- und Besucherverkehrs zu ermöglichen. Überhaupt habe es sich bei der Software der Antragstellerin um eine sehr datenintensive Lösung gehandelt. Luca hingegen operiere ausgesprochen datensparsam. Nur Luca habe eine flexible Anbindung der im Land genutzten Fachverfahren der Gesundheitsämter zugelassen. V. hingegen habe im Zuschlagszeitpunkt keine SORMAS-Schnittstelle aufgewiesen. Insbesondere könne sich die Antragstellerin nicht darauf stützen, dass ein Dateiexport möglich gewesen sei. „Anbindung“ (an SORMAS) meine nämlich mit Blick auf die unter „Zentrale Datenspeicherung“ definierten Anforderungen, dass die Kontaktnachverfolgung allein in der Hand der Gesundheitsämter liegt. Hierfür seien Schnittstellen erforderlich. Nur mit solchen Schnittstellen sei die Hoheit der Gesundheitsämter über die Kontaktnachverfolgung gesichert, indem nur die Gesundheitsämter den Infizierten und anschließend die jeweiligen Veranstalter um Entschlüsselung der erforderlichen Daten bitten können. Die vom Antragsgegner verlangte „flexible Anbindung“ meine gerade, dass das System in der Lage sein müsse, zumindest die Identität der jeweiligen infizierten Person aus der Fachanwendung (SORMAS) in das Nachverfolgungssystem zu importieren. Schon deshalb sei ein bloßer Daten-Export – aus der Nachverfolgungssoftware in Richtung SORMAS – nicht zureichend.

Im Zuge der datenschutzrechtlichen Diskussion müsse – vergleiche insoweit näher die Schriftsätze des Antragsgegners vom 18.08.2021 (Band I Blatt 182 ff. d.A.) und 23.09.2021 (Band II Blatt 52 ff. d.A.) – insbesondere auch berücksichtigt werden, dass die V.-App gegen die datenschutzrechtliche Bestimmung des § 28a Abs. 4 IfSG verstoße. Anders als bei den Papiererfassungsbögen der analogen Welt schreibe die vorbezeichnete Bestimmung für die digitale Kontaktnachverfolgung vor, dass dem jeweiligen Veranstalter (Gastwirt usw.) kein Zugriff auf die Gästedaten eingeräumt werden darf. Ein solcher Zugriff sei nämlich für die Zwecke der Kontaktnachverfolgung schlicht nicht – schon gar nicht zwingend – notwendig. Die Behauptung der Antragstellerin, man habe für eine sachgerechte Umstellung der Funktionsweise der Software nur „einen Schalter umlegen“ müssen, ein Entzug der Daten aus dem Einsichtsbereich der Gastwirte sei also ohne Weiteres herbeizuführen gewesen, könne schon deshalb nicht durchdringen, weil anderenfalls in vergaberechtlichen Kontexten Manipulationen Tür und Tor geöffnet würden.

Im Beschaffungszeitpunkt sei die App der Antragstellerin in keiner Google-Suche auffindbar gewesen. Im Gegenteil: Noch Ende Mai habe eine Google-Recherche keine Hinweise auf die Antragstellerin und ihr Produkt ergeben. Das werde insbesondere dokumentiert durch die als Anlage BG7 (Band I Blatt 144 ff. der Akten) vorgelegten Screenshots über die eigene Recherche der Prozessbevollmächtigten des Antragsgegners vom 28.05.2021. Bei Verwendung der Suchbegriffe „Digitale Kontaktnachverfolgung“, „Digitale Kontaktverfolgung“, „Kontaktverfolgung App“ sowie „corona tracing app“ (mit Zusatz: „germany“) habe sich kein Treffer in Richtung der Antragstellerin ergeben. Das Produkt der Antragstellerin sei auch sonst nicht – etwa aufgrund seiner Verbreitung – bekannt gewesen. Auch die von der Antragstellerin erwähnten E-Mails müssten hier außer Betracht bleiben. Soweit – viele E-Mails würden im Zweifel schon den Spamfilter nicht passieren – überhaupt von einem Zugang ausgegangen werden könne, habe es sich jedenfalls nicht um ein zuschlagsfähiges Vertragsangebot gehandelt. Jedenfalls die jüngere der beiden E-Mails vom 04.03.2021 sei zudem verspätet gewesen. Die Recherchetätigkeit der Vergabestelle sei bereits am 03.03.2021 abgeschlossen gewesen. Der Antragsgegner habe insgesamt eine nach Art und Umfang verhältnismäßige (§ 97 Abs. 1 Satz 2 GWB) Marktrecherche vorgenommen. Der Antragsgegner habe weder im deutschen noch im außerdeutschen Markt weitere Anbieter finden können, deren Produkte den Mindestanforderungen genügt hätten. Der mit der Markterkundung betraute Mitarbeiter habe nicht nur den deutschen, sondern auch den europäischen und weltweiten Markt auf geeignete Produkte hin abgesucht. Ausweislich der als Anlage BG6 (Band I Blatt 143 der Akten) vorgelegten E-Mail vom 23.04.2021 habe der zuständige Mitarbeiter das Internet mit diversen einschlägigen Suchbegriffen sowohl aus der deutschen als auch aus der englischen Sprache durchforstet und hierbei Apps unter anderem aus Italien, Frankreich, Finnland, Norwegen, Japan, den USA und Singapur gefunden. Eine so genannte Shortlist von Produkten, bei denen auf den ersten Blick von einer Erfüllung der Mindestanforderungen auszugehen gewesen sei, sei weitergehend abgeklärt worden. Dabei habe sich herausgestellt, dass letztlich nur Luca allen Mindestanforderungen genüge. Insbesondere habe sich auch bei anderen Produkten ergeben, dass letztlich nur eine Excel-basierte Exportfunktion vorhanden gewesen sei, aber keine SORMAS-Schnittstelle. Für die weiteren Einzelheiten des Vorbringens des Antragsgegners im Beschwerderechtszug wird Bezug genommen auf die Schriftsätze vom 12.07.2021 (Band I Blatt 85 ff. d.A.), 18.08.2021 (Band I Blatt 182 ff. d.A.) und 23.09.2021 (Band II Blatt 52 ff. d.A.).

Die Beigeladene beantragt ebenfalls,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Auch sie verteidigt den angefochtenen Beschluss. Die Beschaffung eines Systems zur Kontaktnachverfolgung sei richtig, zumindest aber infektionsschutzrechtlich vertretbar und jedenfalls auch eilig gewesen. Der Antragsgegner habe sein Leistungsbestimmungsrecht nicht dazu missbraucht, zwingende Vorgaben des Vergaberechts zu umgehen. Die V.-App habe über keine Anbindung an die gesundheitsbehördlichen Fachverfahren, namentlich SORMAS, verfügt. Auch die datenschutzrechtlichen Anforderungen des Antragsgegners würden durch das Produkt der Antragstellerin nicht erfüllt, weil es den Zugriff der jeweiligen Veranstalter auf die Nutzerdaten ermögliche. Zudem setze sie für die Registrierung die Angabe des Geburtsdatums voraus, obwohl dieses Datum für die Kontaktnachverfolgung weder notwendig sei noch einem legitimen Zweck im Sinne der datenschutzrechtlichen Bestimmungen diene. Keine Rolle könne aus vergaberechtlicher Sicht spielen, dass durch entsprechende (Um-) Programmierungen eine Änderung möglich sei. Im Übrigen sei es auch nicht richtig, dass insoweit lediglich kurzfristig ein „Schalter umgelegt“ werden müsse, wie von der Antragstellerin behauptet. Vielmehr sei von einem (Um-) Programmierungsaufwand von wenigstens mehreren Wochen, wenn nicht gar Monaten auszugehen, um die App der Antragstellerin an das zwingende Anforderungsprofil des Antragsgegners anzupassen. Für die weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beigeladenen im Beschwerderechtszug wird Bezug genommen auf die Schriftsätze vom 05.07.2021 (Blatt 62 ff. d.A.), 03.09.2021 (Band I Blatt 196 ff. d.A.) und 20.09.2021 (Band II Blatt 29 ff. d.A.).

Bezug genommen wird ferner insgesamt auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem Senat vom 29.09.2021 (Band II Blatt 59 ff. d.A.), insbesondere wegen der dortigen Erörterung der Schnittstellenproblematik und der diesbezüglichen Klarstellungen der Beteiligten zum Inhalt ihres jeweiligen Tatsachenvortrages.

II.

Die insgesamt zulässige Beschwerde (§§ 171 ff. GWB) hat im aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang auch in der Sache Erfolg.

1. Die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags begegnet in Bezug auf Unwirksamkeitsfeststellung und Verpflichtungsbegehren keinen Bedenken. Die Antragstellerin macht die Verletzung in bieterschützenden Rechten durch eine unzulässige Direktvergabe geltend und es ist nach dem für die Zulässigkeitsprüfung geltenden Maßstab (zu Einzelheiten vgl. Senat, Beschluss vom 01.09.2021 „Luca I“ – 17 Verg 2/21 [Juris; Tz. 37]) nicht von vornherein ausgeschlossen, ihr Produkt sei zuschlagsfähig und ihr drohe deshalb ein Schaden (§ 160 Abs. 2 GWB). Der genaue Inhalt und die vergaberechtliche Zulässigkeit der gestellten Anforderungen und die Erfüllung derselben durch das Produkt der Antragstellerin sind gerade Gegenstand der Nachprüfung. Dann aber bleibt die Prüfung insoweit der Begründetheit vorbehalten.

Nicht zulässig ist hingegen der Antrag auf Feststellung der Verletzung von Vergaberecht durch die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb. Eine generelle Aussage muss der Senat insofern nicht treffen. Entscheidend ist, dass jedenfalls im hier zu entscheidenden Einzelfall diese Feststellung sich – ohne erkennbaren „Mehrwert“ für die Antragstellerin – in dem Problemkreis erschöpft, der bereits Gegenstand des Antrags nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB ist. Jedenfalls bei dieser Sachlage besteht für die genannte zusätzliche Feststellung kein Rechtsschutzbedürfnis.

2. Der Nachprüfungsantrag ist im Umfang seiner Zulässigkeit auch begründet. Die Vergabe ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung ist in dieser Ausgestaltung gesetzlich nicht gestattet (§ 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB).

a) Für den Zuschlag kann sich der Antragsgegner nicht auf § 14 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. b VgV stützen. Nach dieser Vorschrift darf eine Direktvergabe ohne Wettbewerb erfolgen, wenn aus technischen Gründen kein Wettbewerb vorhanden ist, es keine vernünftige Alternative oder Ersatzlösung gibt und der mangelnde Wettbewerb nicht das Ergebnis einer künstlichen Einschränkung der Auftragsvergabeparameter ist (§ 14 Abs. 6 VgV). Dies hat der Auftraggeber eingehend zu dokumentieren (§ 8 Abs. 2 Nr. 7 VgV) und erforderlichenfalls zu beweisen. Ob es zur Vermeidung von Manipulationsmöglichkeiten auf die objektive Unmöglichkeit der Deckung des Beschaffungsbedarfs durch andere Unternehmen ankommt (so Senat, Beschluss vom 25.11.2020 – 17 Verg 1/20 [Juris; Tz. 69]) oder die nach hinreichender Markterkundung gebildete subjektive Einschätzung des öffentlichen Auftraggebers genügt, kann der Senat an dieser Stelle offen lassen. Mit einer bloßen Internetrecherche war die behauptete Alleinstellung jedenfalls nicht zu verifizieren. Auf zeitlich begrenzte Recherchemöglichkeiten kann sich ein Auftraggeber im Rahmen des § 14 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. b VgV nicht berufen, die Alleinstellungsvergabe ist kein Instrument der Notvergabe. Der Antragsgegner hat im Übrigen bereits nicht ansatzweise dokumentiert, ein Import von Anwesenheitslisten über Excel – der tatsächlich praktiziert wird und auch über Konkurrenzprodukte möglich war – sei keine vernünftige Ersatzlösung für eine Schnittstelle.

Demgegenüber lagen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV vor. Es bestanden äußerst dringende, zwingende Gründe, die auch bei maximaler Abkürzung der vorgesehenen Fristen für das offene und das nicht offene Verfahren sowie das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb deren Einhaltung nicht zulassen. Dabei steht die politische Entscheidung des Antragsgegners zu Sockelöffnungen – erste Schritte wurden bereits am 01.03. und am 08.03.2021 ergriffen – ebenso wenig zur Überprüfung durch die Nachprüfungsinstanzen wie das Absehen von der Rücknahme beziehungsweise zeitlichen Verschiebung dieser Öffnungen. Keinen vergaberechtlichen Bedenken begegnet, dass er in diesem Zusammenhang mit Blick auf die Unzulänglichkeit der Kontaktnachverfolgung mit Papierlisten – insbesondere bei höheren Inzidenzen – als erforderlich angesehen hat, die Öffnung zur Begrenzung gesundheitlicher Risiken schnellstmöglich durch eine digitale Kontaktnachverfolgung zu begleiten. Zwar war bereits lange vor Februar/März 2021 abzusehen, dass Bedarf für eine effizientere Kontaktnachverfolgung bestehen wird und hierfür insbesondere eine digitale Datenerhebung und -verarbeitung in Betracht kommt. Zumindest einen Marktüberblick hätte sich also der Antragsgegner rechtzeitig verschaffen können. Andererseits konnte er aber auch – wie sich aus den vorgelegten Unterlagen ergibt – bis zur letzten Februarwoche 2021 noch davon ausgehen, dass der Bund eine einheitliche Lösung / ein Gateway bereitstellt. Erst durch die Mitteilung, die sei kurzfristig nicht zu realisieren, musste der Antragsgegner den Bedarf selbst decken. Auf dieser Grundlage kann von einer Vorhersehbarkeit beziehungsweise Zurechenbarkeit im Sinn des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV nicht ausgegangen werden.

b) Auf Rechtsfolgenseite sieht die Ausnahmeregelung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV allerdings keine gebundene Direktvergabe ohne jeden Wettbewerb, sondern eine Ermessensentscheidung vor, die sich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen muss. Der Eingriff in den Wettbewerb ist so gering wie möglich zu halten. Dies betrifft einerseits Umfang und Laufzeit des Auftrags, andererseits die Gewährleistung von so viel Wettbewerb wie möglich („Wettbewerb light“). Hierzu sind in der Regel mehrere Angebote einzuholen (Senat, Beschluss vom 09.12.2020 – 17 Verg 4/20, VergabeR 2021, 325 = NZBau 2021, 484 [Juris; Tz. 78 i.V.m. Tz. 85], m.w.N.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 04.12.2020 – 15 Verg 8/20 [Juris; Tz. 40]). Dass dies aus zeitlichen Gründen nicht möglich gewesen, durch weitere Angebote also eine nicht hinzunehmende Verzögerung eingetreten wäre, hat der Antragsgegner nicht dokumentiert.

Unzutreffend geht er auch davon aus, er habe aus faktischen Gründen keine Konkurrenzangebote einholen können, weil er schlicht keine weiteren Anbieter habe identifizieren können. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob das Produkt der Antragstellerin bei einer jedenfalls ordnungsgemäßen Markterkundung aufgefunden werden musste und ob die tatsächlich durchgeführte Internetrecherche mit Blick auf die Dringlichkeit den vergaberechtlichen Anforderungen genügte. Denn das Produkt der Antragstellerin musste dem Antragsgegner bereits aus der E-Mail vom 07.10.2020 (Band I Blatt 30 d. A.) bekannt sein. Dass diese Nachricht – und die E-Mail vom 04.03.2021 – den SPAM-Filter nicht passiert habe, hat der Antragsgegner nicht konkret behauptet, sondern lediglich als allgemeine Möglichkeit in den Raum gestellt. Auf dieser Grundlage ist nicht festzustellen, die Nachricht sei nicht im Postfach eingegangen, so dass offen bleiben kann, inwieweit ein Empfänger auch den SPAM-Ordner zu kontrollieren hat. Das Land kann sich nicht darauf berufen, die Nachricht nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Bei Öffnung eines zentralen Postfachs für den allgemeinen E-Mail-Verkehr wie Eingaben ist die entsprechende Stelle gehalten, die Nachrichten auch in gebührender Weise zu sichten, jedenfalls im Zuständigkeitsbereich des Landes ggf. einem Verwaltungsvorgang zuzuordnen und bei Bedarf zu berücksichtigen. Das entspricht letztlich auch § 3a VwVfG M-V und gilt hier erst recht, weil im Oktober 2020 der Bedarf für eine effizientere Kontaktnachverfolgung bereits offensichtlich sein musste. Auf eine Unzuständigkeit seiner Staatskanzlei kann sich der Antragsgegner schon deshalb nicht berufen, weil die Ministerpräsidentin das Land im Grundsatz (vgl. Art. 47 Abs. 1 Satz 1 LV M-V) und auch hier etwa im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenzen nach außen vertritt und die Vergabestelle erst später eingerichtet wurde. Hier hätte die E-Mail – ob veraktet oder nicht – an diese Stelle weitergeleitet werden müssen.

Nach dem Inhalt der E-Mail konnte V. auch nicht ohne Weiteres aus dem Kreis potentieller Anbieter ausgeschieden werden. Entsprechendes hat der Antragsgegner auch in keiner Weise dokumentiert. Der Anforderung eines Angebots der Antragstellerin steht auch nicht entgegen, dass die E-Mail vom 07.10.2020 nicht ihrerseits ein zuschlagsfähiges Angebot, sondern nur eine Art „Initiativbewerbung“ enthielt.

c) Der Wettbewerbsverstoß führt – bei Feststellung im Nachprüfungsverfahren – zur Unwirksamkeit des Zuschlags nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB. Der Senat hält insoweit an seiner Einschätzung aus dem Beschluss vom 09.12.2020 (Az.: 17 Verg 4/20) fest. Seinerzeit ist ausgeführt worden (Tz. 88 ff. bei Juris):

„Der Verstoß führt zur Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrags, denn in dieser Form durfte der Antragsgegner vom Gebot europaweiter Ausschreibung i.S.d. § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB nicht abweichen. Zwar wird (…) unter Verweis auf den Wortlaut der Vorschrift teilweise vertreten, § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB erfasse diejenigen Fälle nicht, in denen die tatbestandlichen Voraussetzungen für das Absehen von der Bekanntmachung vorlagen, der Auftraggeber also ohne Ausschreibung in anderer als der konkret gewählten Form hätte vergeben können (vgl. Voppel, in: Voppel/Osenbrück/Bubert, VgV, 4. Aufl. 2018, GWB § 135 Rn. 61). Dem folgt der Senat indes nicht. Der Wortlaut ist nicht eindeutig und lässt beide Deutungen zu: Einerseits kann er im soeben ausgeführten Sinn verstanden werden. Andererseits ist mit dem Wortlaut auch zu vereinbaren, die vergaberechtliche Zulässigkeit nicht isoliert auf das Unterbleiben der Bekanntmachung, sondern auf die Vergabe und damit das gewählte Verfahren bis zur Auftragserteilung als Ganzes zu beziehen. Eine Ausnahme, die ‚dies aufgrund Gesetzes gestattet‘, wäre danach nur dann gegeben, wenn der Auftraggeber das an die Stelle der Bekanntmachung tretende, gesetzlich zugelassene Verfahren auch eingehalten hat (so auch BeckOK VergabeR/Dreher/Hoffmann, 03. Aufl. 2017, GWB § 135 Rn. 31). Bezugspunkt des vergaberechtlichen Vorwurfs wäre danach ebenfalls die unterbliebene Veröffentlichung, allerdings bereits dann, wenn sie nicht so weit wie gesetzlich vorgesehen kompensiert wird, der Transparenz- und der Wettbewerbsgrundsatz also über das notwendige (und zugelassene) Maß hinaus eingeschränkt sind. Andere Vergaberechtsverstöße als das Absehen von der Bekanntmachung unter Verstoß gegen gesetzliche Vorgaben fielen demgegenüber nicht unter § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB. Die Gesetzgebungsgeschichte spricht für die weite Auslegung. Unter Geltung des § 101b Abs. 1 Nr. 2 GWB a. F. war anerkannt, dass eine Direktvergabe auch dann zur Unwirksamkeit führte, wenn zwar ohne Bekanntmachung mit mehreren Anbietern hätte verhandelt werden dürfen, der Auftraggeber aber weitergehend von einem Wettbewerb vollständig absah und ‚heimlich‘ nur mit einem bestimmten Unternehmen verhandelte. Mit der Neuregelung in § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB sollte der Rechtschutz aber nicht eingeschränkt, sondern eine Rechtschutzlücke geschlossen werden. Das weite Verständnis entspricht auch dem Sinn und Zweck der Regelung. Sie soll einen wirksamen Primärrechtschutz sicherstellen und ‚heimliche‘ Vergaben verhindern (Braun, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 04. Aufl. 2020, GWB § 135 Rn. 53). Könnte der Auftraggeber aber in der vorliegenden Konstellation die als Ausnahme vorgesehene Öffnung des Vergaberechts ausnutzen und den Auftrag unter Missachtung des Vergaberechts direkt an ein Unternehmen vergeben, ohne die Unwirksamkeit des Vertrags fürchten zu müssen, würde der ‚Heimlichkeit‘ Vortrieb geleistet und dem Konkurrenten der gebotene Primärrechtschutz verweigert. Er müsste tatenlos zusehen, wie das vergaberechtswidrig beauftragte Unternehmen den laufenden Auftrag ausführt. (…)“

Diese Einschätzung, die im Schrifttum sowohl Zustimmung (Conrad, COVuR 2021, 174 [175]; Gielen, VergabeR 2021, 337 [338]; Müller, jurisPR-VergR 2/2021 Anm. 1) als auch Kritik (Roth/Landwehr, NZBau 2021, 441 [446 f.]) erfahren hat, hält der Senat auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Anmerkungen weiterhin für richtig. Sie mag aus dem Normwortlaut als solchem nicht zwingend abzuleiten sein, lässt sich mit ihm aber durchaus zwanglos vereinbaren. Ein Widerspruch zum Wortlaut ergibt sich jedenfalls nicht. Im Interesse eines effektiven Vergaberechtsschutzes erscheint die hier vertretene Auffassung letztlich konsequent und sachgerecht. Anderenfalls blieben Vergaberechtsverstöße der hier in Rede stehenden Art faktisch weitgehend – allenfalls abgesehen von kaum durchzusetzenden Schadenersatzansprüchen – sanktionslos.

d) Auf den Wettbewerbsverstoß kann sich die Antragstellerin nur dann nicht berufen, wenn ihr Produkt die zulässig gestellten Mindestanforderungen tatsächlich zweifelsfrei nicht erfüllte und hierauf deshalb der Zuschlag nicht erteilt werden konnte (vgl. Senat, Beschluss vom 11.11.2021 – 17 Verg 6/21; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15.06.2010 – VII-Verg 10/10 [Juris; Tz. 21]; Blöcker, in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, GWB, 05. Aufl. 2020, § 168 Rn. 7, m. w. N.). Das ist hier aber nicht der Fall.

aa) Hinsichtlich der geforderten (flexiblen) Anbindung an SORMAS ist den Vergabeunterlagen lediglich zu entnehmen, Hintergrund des Beschaffungsbedarfs seien die Defizite bei der Kontaktnachverfolgung mit Papierlisten. Deshalb solle eine elektronische Kontaktnachverfolgung etabliert werden. Im Kern ging es um eine Beendigung des aufwändigen „analogen“ Übermittlungsweges von den Gastwirten, Betreibern usw. zum Gesundheitsamt. Der Senat hat dies in einer früheren Entscheidung (Beschluss vom 01.09.2021 „Luca I“ – 17 Verg 2/21, Juris) nach dem Horizont eines verständigen Bieters dahin verstanden (§§ 133, 157 BGB), dass eine Schnittstelle zu SORMAS vorhanden sein muss, und diese zwingende Anforderung als vergaberechtlich zulässig angesehen. Hieran hält er fest. Über eine Schnittstelle verfügen aber unstreitig sowohl Luca als auch V. Allerdings erfolgt der Datenaustausch bei V. so, dass eine Abfrage in der V.-Datenbank über ein V.-Web-Interface erfolgt, die Daten dann aber – bei entsprechenden Zugriffsrechten – automatisch in die SORMAS-Datenbank geschrieben werden und dort für die weitere Kontaktnachverfolgung zur Verfügung stehen. Es handelt sich also lediglich um eine unidirektionale Schnittstelle. Bereits damit dürfte ein ganz erheblicher Effizienzgewinn verbunden sein, weil Kontaktlisten nicht mehr in Papierform übermittelt und in die Fachanwendung des Gesundheitsamts händisch eingepflegt werden müssen. Zwar mag sein, dass der Auftraggeber hier auch eine bidirektionale Schnittstelle – bei der der Datenabruf direkt aus SORMAS initiiert werden oder aus dem Frontend ein Datenabruf aus der SORMAS-Datenbank erfolgen kann – hätte fordern können. Der Senat vermag aber den insoweit eher pauschal gehaltenen Vergabeunterlagen nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass eine solche zwingende Anforderung auch tatsächlich gestellt sein soll.

bb) Auch unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten war ein Zuschlag auf die V.-App nicht ausgeschlossen.

Zunächst widerspricht die Einsicht der Veranstalter in die Anwesenheitslisten § 28a Abs. 4 IfSG nicht. Die Erhebung der personenbezogenen Daten ist für die Kontaktnachverfolgung nach – vergaberechtlich nicht zu beanstandender – Leistungsbestimmung des Antragsgegners erforderlich, der Veranstalter ist nach der gesetzlichen Konzeption Verantwortlicher für die Datenerhebung und eine Einsicht des Verantwortlichen in die erhobenen Daten schließt weder § 28a Abs. 4 IfSG noch die DSGVO aus. Insbesondere ist der Verantwortliche nicht (unbefugter) Dritter im Sinn des § 28a Abs. 4 Satz 2 IfSG. Darüber hinausgehende zwingende Anforderungen an den Datenschutz, die die Einsicht des Veranstalters in die Gästeliste ausschließen, hat der Antragsgegner nicht aufgestellt. In Anlage 3 zu 1 zum Vergabevermerk ist auf Seite 2 unter Nr. 3 angegeben, die Daten seien datenschutzkonform zu speichern und dürften nur im Infektionsfall vom zuständigen Gesundheitsamt geöffnet werden. Dieser Formulierung ist nicht hinreichend deutlich zu entnehmen, ob hiermit lediglich der Datenzugriff des Gesundheitsamts reguliert oder jeder andere Datenzugriff ausgeschlossen werden sollte. Bei einer unklaren Regelung kann aber von strengeren als den gesetzlichen Anforderungen nicht ausgegangen werden. Auch soweit nach Nr. 5 die Erstellung von Bewegungsprofilen nicht möglich sein darf, bezieht sich dies offenbar darauf, dass an der Datenerhebung und -verarbeitung Beteiligte nicht durch Auslesen des Smartphone-Speichers ermitteln können dürfen, an welchen verschiedenen Orten zu welchen Zeiten und ggf. zu welchen Zwecken sich der Nutzer aufgehalten hat. Der Veranstalter kann aber bei V. auf Grundlage der erfassten und von ihm einsehbaren Daten allenfalls ermitteln, wann sich der Nutzer bei ihm aufgehalten hat. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist die Anwendung dabei auf eine solche Profilerstellung nicht originär ausgerichtet. Die Werbeaussage der Antragstellerin, Veranstalter hätten die Möglichkeit, den Kunden- und Besucherverkehr „zu kontrollieren und zu regulieren“, bezieht sich – wie dem im Verfahren vor der Vergabekammer vorgelegten Flyer unschwer zu entnehmen ist – auf die Kontaktdatenerhebung und die Sicherstellung vorgegebener Kapazitätsgrenzen. Die Datenerhebung entspricht – mit Ausnahme der automatisierten Datenverarbeitung – der Situation bei der Nutzung von Papierlisten, die auch weiterhin zulässig blieben. Dass derart eingeschränkte „Bewegungsprofile“ technisch ausgeschlossen sein müssten, vermag der Senat den Vergabeunterlagen nicht zu entnehmen. Insofern kann offen bleiben, ob die Sichtbarkeit der Daten für die Veranstalter einfach über einen bereits programmierten Software-Schalter „Enable/Disable“ konfiguriert werden konnte oder hierzu eine – die Beschaffung ausschließende – Umprogrammierung erforderlich gewesen wäre.

Entsprechendes gilt für die Erfassung des Geburtsdatums bei der Registrierung. Für die Kontaktnachverfolgung ist dieses zwar nicht zwingend erforderlich im Sinn des § 28a Abs. 4 Satz 1 IfSG. Die Erfassung ist aber jedenfalls mit Blick auf Art. 8 DSGVO nicht per se rechtswidrig. Der Beschaffungsdefinition des Antragsgegners lässt sich lediglich in allgemeiner Form entnehmen, dass der Datenschutz von Bedeutung ist. Eine konkrete Vorgabe, die die Erfassung des Geburtsdatums im Sinn eines Ausschlusskriteriums verbietet, lässt sich den Vergabeunterlagen demgegenüber nicht entnehmen. Insofern kann auch hier offen bleiben, ob die Erfassung des Geburtsdatums einfach über einen bereits programmierten Software-Schalter „Enable/Disable“ konfiguriert werden konnte oder hierzu eine – die Beschaffung ausschließende – Umprogrammierung erforderlich gewesen wäre. Zur Verifizierung war das Geburtsdatum jedenfalls zur Überzeugung des Senats nicht erforderlich, weil diese – wie sich bereits den E-Mails vom 07.10.2020 (Band I Bl. 30 d.A.) und vom 04.03.2021 (Band I Bl. 27 d.A.) außerhalb des Verfahrenskontextes entnehmen lässt – per SMS erfolgt.

cc) Kein Beschaffungshindernis stellt auch die Frage der Finanzierungsstruktur dar. Die Antragstellerin hat ausdrücklich erklärt, mit einer zentralen Finanzierung einverstanden zu sein. Bestandsverträge mit einzelnen Betreibern – wenn denn in Mecklenburg-Vorpommern überhaupt welche geschlossen sind – stehen dem bereits aus Rechtsgründen nicht entgegen. Sie können den Abschluss eines zentral finanzierten Vertrags nicht verhindern. Im Übrigen hegt der Senat keinen Zweifel, dass sämtliche mit der Antragstellerin vertraglich verbundenen Gastwirte, Betreiber usw. jederzeit bereit gewesen wären, durch den Abschluss von Aufhebungsverträgen mit der Antragstellerin und damit unabhängig von etwaigen Kündigungsfristen an einer sofortigen – ggf. selbst rückwirkenden – Umstellung auf eine zentrale Finanzierung mittels Landeslizenz mitzuwirken. Darin lag für die betreffenden Vertragspartner ersichtlich ein ausschließlich vorteilhaftes „Geschäft“, dem sich absehbar niemand verschlossen hätte.

dd) Schließlich ergibt sich auch hinsichtlich der zentralen Steuerung und der zentralen Speicherung kein Ausschluss des Produkts der Antragstellerin. Kontaktlisten werden in einer zentralen Datenbank gespeichert und können durch das Gesundheitsamt zentral abgerufen werden. Dass – und welche – weitergehende zentrale (Prozess-) Steuerung oder zentrale Speicherung zwingend erforderlich sein soll, lässt sich den Vergabeunterlagen nicht deutlich entnehmen.

3. Mit Rücksicht darauf, dass der Antragsgegner den nunmehr für unwirksam erklärten Zuschlag auf die Zeit bis zum 31.12.2021 beschränkt und damit zugleich den Beschaffungsbedarf zeitlich limitiert – in Anbetracht der pandemischen Umstände auch nicht etwa „verschiebbar“, sondern in Bezug auf Anfangs- und Endzeitpunkt „einmalig“ bzw. „fix“ – definiert hat (vgl. Senat, Beschluss vom 09.12.2020 – 17 Verg 4/20, VergabeR 2021, 325 = NZBau 2021, 484 [Juris; Tz. 67]), kann sich eine erneute Vergabe freilich, soweit es Gegenstand der vorliegenden Entscheidung ist, nur auf das verbleibende Zeitfenster von 1 ½ Monaten bis zum Jahreswechsel beziehen. Welche vergaberechtlichen Regelungen im Fall der Neuvergabe für diesen Zeitraum zu beachten sind, steht im vorliegenden Verfahren nicht zur Entscheidung des Senats. Der Senat hat daher auch bewusst eine von der wörtlichen Antragsfassung – „Durchführung eines geregelten wettbewerblichen Vergabeverfahrens“ – abweichende (offenere) Formulierung gewählt.

III.

Der durch den Antragsgegner hilfsweise angebrachte (Gegen-) Antrag, ihm vorläufig einen weiteren Vollzug des mit Erfolg angegriffenen Vertrages mit der Beigeladenen zu gestatten, ist infolge des Bedingungseintritts zu bescheiden, bleibt jedoch ohne Erfolg. Der Senat kann nach den §§ 168 Abs. 1 Satz 1, 178 GWB die zur Beseitigung der Rechtsverletzung und zur Verhinderung von Schäden des Antragstellers geeigneten Maßnahmen treffen. Die mit dem Hilfsantrag erstrebte Fortführung des – unwirksamen – Vertrags dient aber gerade nicht der Beseitigung des Verstoßes, sondern der Perpetuierung. Die Anordnung kann auch nicht als im Rahmen der Verhältnismäßigkeit gebotene Einschränkung der Unwirksamkeit ausgesprochen werden. Ein Ermessen eröffnet § 135 GWB nicht.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 71 Satz 1, 175 Abs. 2 GWB. Der teilweise Misserfolg der Beschwerde (§ 71 Satz 2 GWB) in Bezug auf den weiteren Feststellungsantrag – Antrag zu Ziffer 3 – fällt unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens von § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO (vgl. Senat, Beschluss vom 09.12.2020 – 17 Verg 4/20, VergabeR 2021, 325 = NZBau 2021, 484 [Juris; Tz. 90]) nicht ins Gewicht.

Die Notwendigerklärung hinsichtlich der anwaltlichen Vertretung auf Antragstellerseite beruht für das Verfahren vor der Vergabekammer auf § 182 Abs. 4 Satz 4 GWB i.V.m. § 80 Abs. 2 VwVfG M-V. Die Erstattungsfähigkeit der antragstellerischen Rechtsanwaltskosten für den Beschwerderechtszug bedurfte keiner Tenorierung; sie folgt unmittelbar kraft Gesetzes aus § 175 Abs. 1 Satz 1 GWB (Senat, Beschluss vom 05.02.2020 – 17 Verg 4/19, VergabeR 2020, 611 [Juris; Tz. 127]).

Die Wertfestsetzung folgt aus §§ 50 Abs. 2, 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Dabei geht der Senat von der Bruttoauftragssumme aus, die auch die Vergabekammer zu Grunde gelegt hat (BA Seite 25).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Jetzt zum Newsletter anmelden!

Erlaubnis zum Versand des Newsletters: Ich möchte regelmäßig per E-Mail über aktuelle News und interessante Entwicklungen aus den Tätigkeitsfeldern der Anwaltskanzlei Hild & Kollegen informiert werden. Diese Einwilligung zur Nutzung meiner E-Mail-Adresse kann ich jederzeit für die Zukunft widerrufen, in dem ich z. B. eine E-Mail an newsletter [at] kanzlei.biz sende. Der Newsletter-Versand erfolgt entsprechend unserer Datenschutzerklärung.

n/a