Um irreführende Werbung zu sanktionieren muss diese nicht gleichzeitig eine unzulässig vergleichende Werbung sein

01. August 2014
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Urteil des EuGH vom 13.03.2014, Az.: C-52/13

Der EuGH legt die Richtlinie 2006/114/EG über irreführende und unzulässige vergleichende Werbung dahingehend aus, dass irreführende Werbung und unzulässige vergleichende Werbung jeweils zwei eigenständige Verstöße darstellen. Für die Sanktionierung von irreführender Werbung ist es nicht notwendig, dass diese gleichzeitig auch eine unzulässige vergleichende Werbung ist. Die Richtlinie verfolgt einerseits die Gewährleistung des Schutzes von Gewerbetreibenden vor irreführender Werbung und andererseits die Festlegung von Bedingungen für zulässige vergleichende Werbung.

Euopäischer Gerichtshof

Urteil vom 13.03.2014

Az.: C-52/13

In der Rechtssache C‑52/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Italien) mit Entscheidung vom 16. November 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Januar 2013, in dem Verfahren

Posteshop SpA – Divisione Franchising Kipoint

gegen

Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato,

Presidenza del Consiglio dei Ministri,

Beteiligte:

Cg srl,

Tacoma srl,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten … sowie der Richter … und … (Berichterstatter),

Generalanwältin: …,

Kanzler: … ,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Posteshop SpA – Divisione Franchising Kipoint, vertreten durch … und …,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch … als Bevollmächtigte im Beistand von …,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch … als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch … und … als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/114/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über irreführende und vergleichende Werbung (kodifizierte Fassung) (ABl. L 376, S. 21).

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Posteshop SpA – Divisione Franchising Kipoint (im Folgenden: Posteshop) auf der einen Seite sowie der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, im Folgenden: Autorità) und der Presidenza del Consiglio dei Ministri (Präsidium des Ministerrats) auf der anderen Seite über eine Entscheidung, mit der festgestellt wurde, Posteshop habe irreführende Werbung gemacht.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Die Erwägungsgründe 1, 3, 8 und 16 bis 18 der Richtlinie 2006/114 sehen vor:

„(1)      Die Richtlinie 84/450/EWG des Rates vom 10. September 1984 über irreführende und vergleichende Werbung [(ABl. L 250, S. 17)] ist mehrfach und in wesentlichen Punkten geändert worden … Aus Gründen der Klarheit und der Übersichtlichkeit empfiehlt es sich, sie zu kodifizieren.

(3)      Irreführende und unzulässige vergleichende Werbung ist geeignet, zur Verfälschung des Wettbewerbs im Binnenmarkt zu führen.

(8)      Vergleichende Werbung kann, wenn sie wesentliche, relevante, nachprüfbare und typische Eigenschaften vergleicht und nicht irreführend ist, ein zulässiges Mittel zur Unterrichtung der Verbraucher über ihre Vorteile darstellen. …

(16)      Personen oder Organisationen, die nach dem nationalen Recht ein berechtigtes Interesse an der Angelegenheit haben, müssen die Möglichkeit besitzen, vor Gericht oder bei einer Verwaltungsbehörde, die über Beschwerden entscheiden oder geeignete gerichtliche Schritte einleiten kann, gegen irreführende oder unzulässige vergleichende Werbung vorzugehen.

(17)      Die Gerichte oder Verwaltungsbehörden sollten die Befugnis haben, die Einstellung einer irreführenden oder einer unzulässigen vergleichenden Werbung anzuordnen oder zu erwirken. …

(18)      Freiwillige Kontrollen, die durch Einrichtungen der Selbstverwaltung zur Unterbindung irreführender und unzulässiger vergleichender Werbung durchgeführt werden, können die Einleitung eines Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens entbehrlich machen und sollten deshalb gefördert werden.“

Art. 1 der Richtlinie 2006/114 lautet:

„Zweck dieser Richtlinie ist der Schutz von Gewerbetreibenden vor irreführender Werbung und deren unlauteren Auswirkungen sowie die Festlegung der Bedingungen für zulässige vergleichende Werbung.“

Art. 2 der Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

a)      ‚Werbung‘ jede Äußerung bei der Ausübung eines Handels, Gewerbes, Handwerks oder freien Berufs mit dem Ziel, den Absatz von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen, einschließlich unbeweglicher Sachen, Rechte und Verpflichtungen, zu fördern;

b)      ‚irreführende Werbung‘ jede Werbung, die in irgendeiner Weise – einschließlich ihrer Aufmachung – die Personen, an die sie sich richtet oder die von ihr erreicht werden, täuscht oder zu täuschen geeignet ist und die infolge der ihr innewohnenden Täuschung ihr wirtschaftliches Verhalten beeinflussen kann oder aus diesen Gründen einen Mitbewerber schädigt oder zu schädigen geeignet ist;

c)      ‚vergleichende Werbung‘ jede Werbung, die unmittelbar oder mittelbar einen Mitbewerber oder die Erzeugnisse oder Dienstleistungen, die von einem Mitbewerber angeboten werden, erkennbar macht;

…“

Art. 3 der Richtlinie weist darauf hin, dass bei der Beurteilung der Frage, ob eine Werbung irreführend ist, alle ihre Bestandteile zu berücksichtigen sind, und zählt bestimmte hierfür relevante Bestandteile auf.

Art. 4 der Richtlinie nennt die Voraussetzungen, unter denen vergleichende Werbung unzulässig ist.

Art. 5 der Richtlinie 2006/114 sieht vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen im Interesse der Gewerbetreibenden und ihrer Mitbewerber sicher, dass geeignete und wirksame Mittel zur Bekämpfung der irreführenden Werbung vorhanden sind, und gewährleisten die Einhaltung der Bestimmungen über vergleichende Werbung.

(3)      Im Rahmen der in den Absätzen 1 und 2 genannten Vorschriften übertragen die Mitgliedstaaten den Gerichten oder Verwaltungsbehörden Befugnisse, die sie ermächtigen, in Fällen, in denen sie diese Maßnahmen unter Berücksichtigung aller betroffenen Interessen und insbesondere des Allgemeininteresses für erforderlich halten,

a)      die Einstellung einer irreführenden oder unzulässigen vergleichenden Werbung anzuordnen oder geeignete gerichtliche Schritte zur Veranlassung der Einstellung dieser Werbung einzuleiten,

oder

b)      sofern eine irreführende oder unzulässige vergleichende Werbung noch nicht veröffentlicht ist, die Veröffentlichung aber bevorsteht, die Veröffentlichung zu verbieten oder geeignete gerichtliche Schritte einzuleiten, um das Verbot dieser Veröffentlichung anzuordnen.

(4)      Die Mitgliedstaaten können den Gerichten oder Verwaltungsbehörden Befugnisse übertragen, die es diesen gestatten, zur Ausräumung der fortdauernden Wirkung einer irreführenden oder unzulässigen vergleichenden Werbung, deren Einstellung durch eine rechtskräftige Entscheidung angeordnet worden ist,

a)      die Veröffentlichung dieser Entscheidung ganz oder auszugsweise und in der von ihnen für angemessen erachteten Form zu verlangen;

b)      außerdem die Veröffentlichung einer berichtigenden Erklärung zu verlangen.

…“

Art. 6 der Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie schließt die freiwillige Kontrolle irreführender oder vergleichender Werbung durch Einrichtungen der Selbstverwaltung … nicht aus … Die Mitgliedstaaten können diese freiwillige Kontrolle fördern.“

Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2006/14 lautet:

„Diese Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, Bestimmungen aufrechtzuerhalten oder zu erlassen, die bei irreführender Werbung einen weiter reichenden Schutz der Gewerbetreibenden und Mitbewerber vorsehen.

Unterabsatz 1 gilt nicht für vergleichende Werbung, soweit es sich um den Vergleich handelt.“

Italienisches Recht

Das Decreto legislativo Nr. 145 vom 2. August 2007 über die Durchführung von Art. 14 der Richtlinie 2005/29/EG, durch den die Richtlinie 84/450/EWG über irreführende Werbung geändert wird, (GURI Nr. 207 vom 6. September 2007, im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 145/2007) sieht in Art. 1 Abs. 1 vor:

„Zweck der Bestimmungen des vorliegenden Decreto legislativo ist der Schutz von Gewerbetreibenden vor irreführender Werbung und deren unlauteren Auswirkungen sowie die Festlegung der Bedingungen für zulässige vergleichende Werbung.“

Art. 3 dieses Dekrets definiert die Bestandteile, anhand deren der irreführende Charakter der Werbung beurteilt werden kann. Art. 4 des Dekrets zählt die Voraussetzungen auf, unter denen vergleichende Werbung als zulässig angesehen wird.

Art. 8 Abs. 8 und 9 dieses Decreto legislativo lauten:

„Wenn sie der Ansicht ist, dass die Werbung irreführend oder die vergleichende Werbebotschaft unzulässig ist, untersagt die [Autorità] ihre Verbreitung, wenn sie der Öffentlichkeit noch nicht zur Kenntnis gebracht wurde, oder andernfalls ihre weitere Verbreitung. Diese Entscheidung kann zulasten und auf Kosten des Gewerbetreibenden auch die Veröffentlichung der Entscheidung, auch in Form von Auszügen, sowie eventuell einer spezifischen richtigstellenden Erklärung vorsehen, mit der verhindert werden kann, dass die irreführende Werbung oder die unzulässige vergleichende Werbebotschaft weiterhin ihre Wirkungen entfaltet.

Neben der Maßnahme des Verbots der Verbreitung der Werbung entscheidet die [Autorità] außerdem unter Berücksichtigung der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung über die Anwendung einer verwaltungsrechtlichen Geldbuße von 5 000 [Euro] bis 500 000 [Euro]. Im Fall von Werbung, die eine Gefahr für die Gesundheit oder die Sicherheit mit sich bringen oder die unmittelbar oder mittelbar Minderjährige oder Heranwachsende betreffen kann, darf die Geldbuße nicht weniger als 50 000 [Euro] betragen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Autorità mit Entscheidung vom 30. März 2010 feststellte, dass es sich bei dem von Posteshop zur Förderung des Franchising-Netzes Kipoint verbreiteten Werbematerial um irreführende Werbung im Sinne der Art. 1 und 3 des Decreto legislativo Nr. 145/2007 handele. Daher untersagte sie in derselben Entscheidung die weitere Verbreitung und verhängte gegen Posteshop eine Geldbuße in Höhe von 100 000 Euro.

Posteshop erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (regionales Verwaltungsgericht Latium). Dieses wies die Klage als unbegründet ab und entschied u. a., dass aus Art. 1, Art. 5 Abs. 3 Buchst. a und b und Art. 4 der Richtlinie 2006/114 hervorgehe, dass das von dieser umgesetzte Schutzsystem nicht nur die Fälle betreffe, in denen die Werbung gleichzeitig Erscheinungsformen irreführender Werbung und Erscheinungsformen unzulässiger vergleichender Werbung enthalte.

Posteshop legte gegen diese Entscheidung Berufung beim vorlegenden Gericht ein. Vor diesem macht Posteshop insbesondere geltend, dass sich aus dem dritten Erwägungsgrund und aus Art. 5 der Richtlinie 2006/114 ergebe, dass Zweck dieser Richtlinie sei, nur die Handlungen zu sanktionieren, die gleichzeitig irreführende und unzulässige vergleichende Werbung darstellten, und dass das Decreto legislativo Nr. 145/2007 in diesem Sinne auszulegen sei. Daher könne ihr nicht vorgeworfen werden, diese Normen missachtet zu haben.

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, die vom Tribunale amministrativo regionale per il Lazio vorgenommene Auslegung sei die überzeugendste. Allerdings ist es der Ansicht, der Standpunkt von Posteshop, wonach in Bezug auf den Schutz von Gewerbetreibenden die Irreführung nur eine Voraussetzung der Unrechtmäßigkeit der vergleichenden Werbung sei, nicht unerheblich sei, denn er beruhe auf den Erwägungsgründen 3, 8 und 16 bis 18 der Richtlinie 2006/114, die auf „irreführende und unzulässige vergleichende Werbung“ Bezug nähmen.

Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist die Richtlinie 2006/114 in Bezug auf den Schutz von Gewerbetreibenden dahin auszulegen, dass sie sich auf Werbung bezieht, die gleichzeitig irreführende und unzulässige vergleichende Werbung ist, oder auf zwei verschiedene unerlaubte Handlungen, die auch jede für sich erheblich sind und von denen die eine eine irreführende Werbung und die andere eine unzulässige vergleichende Werbung darstellt?

 Zur Vorlagefrage

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2006/114 in Bezug auf den Schutz von Gewerbetreibenden dahin auszulegen ist, dass sie irreführende und unzulässige vergleichende Werbung als zwei selbständige Zuwiderhandlungen behandelt und dass es, um eine irreführende Werbung zu untersagen und zu sanktionieren, nicht notwendig ist, dass diese auch eine unzulässige vergleichende Werbung darstellt.

Hierzu ist festzustellen, dass zum einen, wie das vorlegende Gericht ausführt, die Erwägungsgründe 3 und 16 bis 18 der Richtlinie 2006/114 in ihrer italienischen Fassung die Formulierung „pubblicità ingannevole ed illegittimamente comparativa“ („irreführende und unzulässige vergleichende Werbung“) verwenden, was darauf hindeuten könnte, dass sie auf eine Werbung abzielen, die gleichzeitig irreführend und unzulässig vergleichend ist. Zum anderen verwendet der genannte dritte Erwägungsgrund u. a. in seiner französischen Fassung die Formulierung „publicité trompeuse et … publicité comparative illicite“ („irreführende und unzulässige vergleichende Werbung“), und die genannten Erwägungsgründe 16 bis 18 verwenden in dieser Sprachfassung die Formulierung „publicité trompeuse ou … publicité comparative illicite“ („irreführende oder unzulässige vergleichende Werbung“), was im Gegenteil darauf hindeutet, dass es sich um zwei verschiedene Arten von Werbung handelt.

Nach ständiger Rechtsprechung kann jedoch die in einer der Sprachfassungen einer unionsrechtlichen Vorschrift verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden. Weichen die beiden Sprachfassungen eines unionsrechtlichen Textes voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (vgl. Urteile vom 12. November 1998, Institute of the Motor Industry, C‑149/97, Slg. 1998, I‑7053, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 24. Oktober 2013, Drozdovs, C‑277/12, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut von Art. 1 der Richtlinie 2006/114 diese ein doppeltes Ziel verfolgt, das zum einen im Schutz von Gewerbetreibenden vor irreführender Werbung und deren unlauteren Auswirkungen und zum anderen in der Festlegung der Bedingungen für zulässige vergleichende Werbung besteht.

Zweitens ist festzustellen, dass die Begriffe „irreführende Werbung“ und „vergleichende Werbung“ Gegenstand zweier verschiedener Definitionen sind, die in Art. 2 Buchst. b bzw. c der Richtlinie 2006/114 enthalten sind.

Drittens geht aus Art. 5 Abs. 3 Buchst. a und b und Art. 6 dieser Richtlinie hervor, dass die Möglichkeit bestehen muss, gegen irreführende oder unzulässige vergleichende Werbung Klage vor den zuständigen Gerichten oder Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten zu erheben, dass diese Gerichte oder Verwaltungsbehörden befugt sein müssen, Maßnahmen zu ergreifen, um die Einstellung einer irreführenden oder unzulässigen vergleichenden Werbung anzuordnen oder ihre Verbreitung zu untersagen, und dass die Mitgliedstaaten die freiwillige Kontrolle fördern können, um irreführende oder unzulässige vergleichende Werbung zu unterbinden. Im Unterschied zu den Erwägungsgründen 16 bis 18 der Richtlinie 2006/114 in ihrer italienischen Fassung setzt die Verwendung der Konjunktion „oder“ in diesen Artikeln in allen Sprachfassungen somit die Möglichkeit voraus, solche Maßnahmen entweder gegen irreführende Werbung oder gegen unzulässige vergleichende Werbung zu erlassen, ohne dass diese beiden Umstände kumulativ vorliegen müssen, damit eine Zuwiderhandlung besteht.

Viertens geht aus der Richtlinie 2006/114 eindeutig hervor, dass die Bestimmungen über die irreführende Werbung und diejenigen über die vergleichende Werbung unterschiedliche Ansätze verfolgen. Diese Richtlinie sieht in ihrem Art. 3 die Mindestkriterien und Ziele vor, um zu bestimmen, ob eine Werbung irreführend und damit unzulässig ist, wohingegen Art. 4 der genannten Richtlinie die kumulativen Voraussetzungen aufzählt, die eine vergleichende Werbung erfüllen muss, um als unzulässig zu gelten (vgl. in diesem Zusammenhang, Urteile vom 18. Juni 2009, L’Oréal u. a., C‑487/07, Slg. 2009, I‑5185, Rn. 67, und vom 18. November 2010, Lidl, C‑159/09, Slg. 2010, I‑11761, Rn. 16), wobei der achte Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/114 zudem darauf hinweist, dass diese Werbung ein zulässiges Mittel zur Unterrichtung der Verbraucher über ihre Vorteile darstellen kann.

Aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich, dass im Rahmen dieser Richtlinie die irreführende und die unzulässige vergleichende Werbung jeweils eine selbständige Zuwiderhandlung darstellen.

Diese Auslegung wird durch die Analyse und die Entwicklung der unionsrechtlichen Regelung im Bereich der irreführenden und vergleichenden Werbung bestätigt. Die Richtlinie 84/450 in ihrer ursprünglichen Fassung betraf nämlich nur irreführende Werbung. Die Regelung der vergleichenden Werbung wurde in diese letztgenannte Richtlinie durch die Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 1997 zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG über irreführende Werbung zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung (ABl. L 290, S. 18) eingeführt. Das Ziel der Richtlinie 97/55 war nach dem Wortlaut des 18. Erwägungsgrundes, die Bedingungen festzulegen, unter denen vergleichende Werbung zulässig ist. Dagegen hat diese Richtlinie in keiner Weise die Bestimmungen der Richtlinie 84/450 über irreführende Werbung geändert. Sodann hat die Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (ABl. L 149, S. 22) den Anwendungsbereich der Richtlinie 84/450 auf den Schutz von Gewerbetreibenden beschränkt. Schließlich hat die Richtlinie 2006/114 diese letztgenannte Richtlinie kodifiziert. Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber nicht beabsichtigt hat, durch den Erlass der Richtlinien 97/55 und 2006/114 die Regelung über irreführende Werbung, wie sie von der Richtlinie 84/450 vorgesehen ist, außer dass er ihren Anwendungsbereich beschränkt, zu ändern.

Nach alledem ist auf die Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2006/114 in Bezug auf den Schutz von Gewerbetreibenden dahin auszulegen ist, dass sie irreführende und unzulässige vergleichende Werbung als zwei selbständige Zuwiderhandlungen behandelt und dass es, um eine irreführende Werbung zu untersagen und zu sanktionieren, nicht notwendig ist, dass diese gleichzeitig eine unzulässige vergleichende Werbung darstellt.

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 2006/114/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über irreführende und vergleichende Werbung ist in Bezug auf den Schutz von Gewerbetreibenden dahin auszulegen, dass sie irreführende und unzulässige vergleichende Werbung als zwei selbständige Zuwiderhandlungen behandelt und dass es, um eine irreführende Werbung zu untersagen und zu sanktionieren, nicht notwendig ist, dass diese gleichzeitig eine unzulässige vergleichende Werbung darstellt.

 

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