Zur Beurteilung der Eigenart eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters

30. September 2014
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Urteil des EuGH vom 19.06.2014, Az.: C-345/13

Im Rahmen einer Verletzungsklage ist ein nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster als rechtsgültig anzusehen, wenn dessen Inhaber angibt, inwiefern das Geschmacksmuster Eigenart aufweist, d.h. wenn er das oder die Elemente benennt, die diesem Eigenart verleihen. Eine Nachweispflicht besteht dagegen nicht. Ob Eigenart vorliegt, ist durch Vergleich des Geschmacksmusters mit einem oder mehreren genau bezeichneten, der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Geschmacksmustern zu bestimmen.

Europäischer Gerichtshof

Urteil vom 19.06.2014

Az.: C-345/13

In der Rechtssache C-345/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court (Irland) mit Entscheidung vom 6. Juni 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juni 2013, in dem Verfahren

Karen Millen Fashions Ltd

gegen

Dunnes Stores,

Dunnes Stores (Limerick) Ltd

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

folgendes

Urteil

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 und 85 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1).

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Karen Millen Fashions Ltd (im Folgenden: KMF) und Dunnes Stores und Dunnes Stores (Limerick) Ltd (im Folgenden zusammen: Dunnes) über eine von KMF eingereichte Klage auf Untersagung der Benutzung von Geschmacksmustern durch Dunnes.

Rechtlicher Rahmen

TRIPS-Übereinkommen

Das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights, im Folgenden: TRIPS-Übereinkommen), in Anhang 1 C des am 15. April 1994 in Marrakesch unterzeichneten Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) wurde mit dem Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986–1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche (ABl. L 336, S. 1) genehmigt.

In Abschnitt 4 („Gewerbliche Muster und Modelle“) von Teil II („Normen betreffend die Verfügbarkeit, den Umfang und die Ausübung von Rechten des geistigen Eigentums“) dieses Übereinkommens bestimmt Art. 25 („Voraussetzungen für die Gewährung des Schutzes“):

„(1)      Die Mitglieder sehen den Schutz unabhängig geschaffener gewerblicher Muster und Modelle vor, die neu sind oder Eigenart haben. Die Mitglieder können bestimmen, dass Muster oder Modelle nicht neu sind oder keine Eigenart haben, wenn sie sich von bekannten Mustern oder Modellen oder Kombinationen bekannter Merkmale von Mustern oder Modellen nicht wesentlich unterscheiden. Die Mitglieder können bestimmen, dass sich dieser Schutz nicht auf Muster oder Modelle erstreckt, die im Wesentlichen aufgrund technischer oder funktionaler Überlegungen vorgegeben sind.

…“

 Verordnung Nr. 6/2002

In den Erwägungsgründen 9, 14, 16, 17, 19 und 25 der Verordnung Nr. 6/2002 heißt es:

„(9)      Die materiellrechtlichen Bestimmungen dieser Verordnung über das Geschmacksmusterrecht sollten den entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 98/71/EG angepasst werden.

(14)      Ob ein Geschmacksmuster Eigenart besitzt, sollte danach beurteilt werden, inwieweit sich der Gesamteindruck, den der Anblick des Geschmacksmusters beim informierten Benutzer hervorruft, deutlich von dem unterscheidet, den der vorbestehende Formschatz bei ihm hervorruft, und zwar unter Berücksichtigung der Art des Erzeugnisses, bei dem das Geschmacksmuster benutzt wird oder in das es aufgenommen wird, und insbesondere des jeweiligen Industriezweigs und des Grades der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters.

(16)      Einige dieser Wirtschaftszweige bringen zahlreiche Geschmacksmuster für Erzeugnisse hervor, die häufig nur eine kurze Lebensdauer auf dem Markt haben; für sie ist ein Schutz ohne Eintragungsformalitäten vorteilhaft und die Schutzdauer von geringerer Bedeutung. Andererseits gibt es Wirtschaftszweige, die die Vorteile der Eintragung wegen ihrer größeren Rechtssicherheit schätzen und der Möglichkeit einer längeren, der absehbaren Lebensdauer ihrer Erzeugnisse auf dem Markt entsprechenden Schutzdauer bedürfen.

(17)      Hierfür sind zwei Schutzformen notwendig, nämlich ein kurzfristiges nicht eingetragenes Geschmacksmuster und ein längerfristiges eingetragenes Geschmacksmuster.

(19)      Das Gemeinschaftsgeschmacksmuster sollte nur dann bestehen, wenn das Geschmacksmuster neu ist und wenn es außerdem eine Eigenart im Vergleich zu anderen Geschmacksmustern besitzt.

(25)      Wirtschaftszweige, die sehr viele möglicherweise kurzlebige Geschmacksmuster während kurzer Zeiträume hervorbringen, von denen vielleicht nur einige tatsächlich vermarktet werden, werden das nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster vorteilhaft finden. Für diese Wirtschaftszweige besteht ferner der Bedarf, leichter auf das eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster zugreifen zu können. Die Möglichkeit, eine Vielzahl von Geschmacksmustern in einer Sammelanmeldung zusammenzufassen, würde diesem Bedürfnis abhelfen. Die in einer Sammelanmeldung enthaltenen Geschmacksmuster können allerdings geltend gemacht werden oder Gegenstand einer Lizenz, eines dinglichen Rechts, einer Zwangsvollstreckung, eines Insolvenzverfahrens, eines Verzichts, einer Erneuerung, einer Rechtsübertragung, einer Aufschiebung der Bekanntmachung oder einer Nichtigerklärung unabhängig voneinander sein.“

In Art. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 heißt es:

„(1)      Ein den Voraussetzungen dieser Verordnung entsprechendes Geschmacksmuster wird nachstehend ‚Gemeinschaftsgeschmacksmuster‘ genannt.

(2)      Ein Geschmacksmuster wird:

a)      durch ein ‚nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster‘ geschützt, wenn es in der in dieser Verordnung vorgesehenen Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird;

…“

Gemäß Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung wird ein Geschmacksmuster durch ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster geschützt, soweit es neu ist und Eigenart hat.

Art. 5 dieser Verordnung sieht vor:

„(1)      Ein Geschmacksmuster gilt als neu, wenn der Öffentlichkeit:

a)      im Fall nicht eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster vor dem Tag, an dem das Geschmacksmuster, das geschützt werden soll, erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird,

b)      im Fall eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung des Geschmacksmusters, das geschützt werden soll, oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen wird, vor dem Prioritätstag,

kein identisches Geschmacksmuster zugänglich gemacht worden ist.

(2)      Geschmacksmuster gelten als identisch, wenn sich ihre Merkmale nur in unwesentlichen Einzelheiten unterscheiden.“

Art. 6 der Verordnung bestimmt:

„(1)      Ein Geschmacksmuster hat Eigenart, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Geschmacksmuster bei diesem Benutzer hervorruft, das der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, und zwar:

a)      im Fall nicht eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster vor dem Tag, an dem das Geschmacksmuster, das geschützt werden soll, erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird,

b)      im Fall eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen wird, vor dem Prioritätstag.

(2)      Bei der Beurteilung der Eigenart wird der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters berücksichtigt.“

Art. 11 der Verordnung Nr. 6/2002 lautet wie folgt:

„(1)      Ein Geschmacksmuster, das die im 1. Abschnitt genannten Voraussetzungen erfüllt, wird als ein nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster für eine Frist von drei Jahren geschützt, beginnend mit dem Tag, an dem es der Öffentlichkeit innerhalb der Gemeinschaft erstmals zugänglich gemacht wurde.

(2)      Im Sinne des Absatzes 1 gilt ein Geschmacksmuster als der Öffentlichkeit innerhalb der Gemeinschaft zugänglich gemacht, wenn es in solcher Weise bekannt gemacht, ausgestellt, im Verkehr verwendet oder auf sonstige Weise offenbart wurde, dass dies den in der Gemeinschaft tätigen Fachkreisen des betreffenden Wirtschaftszweigs im normalen Geschäftsverlauf bekannt sein konnte. Ein Geschmacksmuster gilt jedoch nicht als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wenn es lediglich einem Dritten unter der ausdrücklichen oder stillschweigenden Bedingung der Vertraulichkeit offenbart wurde.“

In Art. 19 dieser Verordnung heißt es:

„(1)      Das eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster gewährt seinem Inhaber das ausschließliche Recht, es zu benutzen und Dritten zu verbieten, es ohne seine Zustimmung zu benutzen. Die erwähnte Benutzung schließt insbesondere die Herstellung, das Anbieten, das Inverkehrbringen, die Einfuhr, die Ausfuhr oder die Benutzung eines Erzeugnisses, in das das Muster aufgenommen oder bei dem es verwendet wird, oder den Besitz des Erzeugnisses zu den genannten Zwecken ein.

(2)      Das nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster gewährt seinem Inhaber das Recht, die in Absatz 1 genannten Handlungen zu verbieten, jedoch nur, wenn die angefochtene Benutzung das Ergebnis einer Nachahmung des geschützten Musters ist.

Die angefochtene Benutzung wird nicht als Ergebnis einer Nachahmung des geschützten Geschmacksmusters betrachtet, wenn sie das Ergebnis eines selbständigen Entwurfs eines Entwerfers ist, von dem berechtigterweise angenommen werden kann, dass er das von dem Inhaber offenbarte Muster nicht kannte.

…“

Art. 85 Abs. 2 dieser Verordnung lautet:

„(2)      In Verfahren betreffend eine Verletzungsklage oder eine Klage wegen drohender Verletzung eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters haben die Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte, wenn der Rechtsinhaber Beweis für das Vorliegen der Voraussetzungen von Artikel 11 erbringt und angibt, inwiefern sein Geschmacksmuster Eigenart aufweist, von der Rechtsgültigkeit des Gemeinschaftsgeschmacksmusters auszugehen. Die Rechtsgültigkeit kann vom Beklagten jedoch mit einer Widerklage auf Erklärung der Nichtigkeit bestritten werden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

KMF ist eine Gesellschaft englischen Rechts, die Damenbekleidung fertigt und verkauft.

Dunnes ist eine große Einzelhandelskette in Irland, die im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeiten Damenbekleidung verkauft.

Im Jahr 2005 entwarf KMF ein gestreiftes Hemd (in einer blauen und einer steinbraunen Version) sowie ein schwarzes Strickoberteil und brachte beides in Irland in Verkauf (im Folgenden: KMF Bekleidung).

Vertreter von Dunnes erwarben Exemplare der KMF Bekleidung in einem der irischen Einzelhandelsgeschäfte von KMF. In der Folge ließ Dunnes Kopien dieser Kleidungsstücke außerhalb Irlands fertigen und brachte sie Ende 2006 in ihren irischen Geschäften in Verkauf.

KMF, die geltend machte, Inhaberin von nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmustern für die genannten Kleidungsstücke zu sein, erhob am 2. Januar 2007 Klage beim High Court, mit der sie u. a. beantragte, Dunnes die Benutzung dieser Geschmacksmuster zu untersagen sowie zur Zahlung von Schadensersatz an sie zu verurteilen.

Der High Court gab der Klage statt.

Gegen die Entscheidung des High Court legte Dunnes beim Supreme Court Rechtsmittel ein.

Dieses Gericht weist darauf hin, dass Dunnes nicht bestreitet, die KMF Bekleidung kopiert zu haben, und erkennt an, dass die nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster, deren Inhaberin zu sein KMF behauptet, neu seien.

Wie jedoch aus dem Vorlagebeschluss hervorgeht, bestreitet Dunnes, dass KMF Inhaberin eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters für alle KMF Kleidungsstücke sei, weil sie keine Eigenart im Sinne der Verordnung Nr. 6/2002 hätten und nach dieser Verordnung in Wirklichkeit KMF nachzuweisen habe, dass diese Kleidungsstücke Eigenart aufwiesen.

Unter diesen Voraussetzungen hat der Supreme Court beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist bei der Beurteilung der Eigenart eines Geschmacksmusters, für das Schutz als nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster im Sinne der Verordnung Nr. 6/2002 in Anspruch genommen wird, der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, im Sinne von Art. 6 der Verordnung danach zu beurteilen, ob sich dieser von dem bei einem solchen Benutzer hervorgerufenen Gesamteindruck unterscheidet,

a)      den ein einzelnes Geschmacksmuster hervorruft, das der Öffentlichkeit früher zugänglich gemacht worden ist, oder

b)      den eine Kombination bekannter Geschmacksmustermerkmale mehrerer solcher älterer Geschmacksmuster hervorruft?

2.      Hat ein Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht von der Rechtsgültigkeit eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters im Sinne von Art. 85 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 auszugehen, wenn der Rechtsinhaber lediglich angibt, inwiefern das Geschmacksmuster Eigenart aufweist, oder hat der Rechtsinhaber zu beweisen, dass das Geschmacksmuster Eigenart nach Art. 6 der Verordnung besitzt?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass für die Bejahung der Eigenart eines Geschmacksmusters sich der Gesamteindruck, den dieses beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck, den ein oder mehrere ältere Geschmacksmuster für sich genommen bei einem solchen Benutzer hervorrufen, oder aber von dem Gesamteindruck, den eine Kombination isolierter Elemente von mehreren älteren Geschmacksmustern bei ihm hervorruft, unterscheiden muss.

Aus dem Wortlaut von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 geht hierzu nicht hervor, dass der dort angeführte Gesamteindruck durch eine solche Kombination hervorgerufen werden muss.

Wegen des Bezugs auf den Gesamteindruck, den ein der Öffentlichkeit zugänglich gemachtes „Geschmacksmuster“ bei einem informierten Benutzer hervorruft, ist Art. 6 dahin auszulegen, dass die Frage, ob ein Geschmacksmuster Eigenart besitzt, durch einen Vergleich mit einem oder mehreren genau bezeichneten, einzeln benannten Geschmacksmustern beurteilt werden muss, die aus der Gesamtheit der der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Geschmacksmuster ermittelt und bestimmt wurden.

Diese Auslegung entspricht, worauf die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Europäische Kommission hingewiesen haben, der Rechtsprechung, nach der ein informierter Benutzer, soweit möglich, einen direkten Vergleich zwischen den angegriffenen Geschmacksmustern vornimmt (vgl. Urteile PepsiCo/Grupo Promer Mon Graphic, C‑281/10 P, EU:C:2011:679, Rn. 55, sowie Neuman u. a./José Manuel Baena Grupo, C‑101/11 P und C‑102/11 P, EU:C:2012:641, Rn. 54), da sich ein solcher Vergleich tatsächlich auf den Eindruck bezieht, den nicht etwa eine Zusammensetzung von spezifischen Elementen oder Teilen von älteren Geschmacksmustern, sondern bestimmte, einzeln benannte ältere Geschmacksmuster bei diesem Benutzer hervorrufen.

Der Gerichtshof hat zwar auch entschieden, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein solcher direkter Vergleich im betreffenden Bereich undurchführbar oder ungewöhnlich ist, insbesondere wegen spezieller Umstände oder der Merkmale der Gegenstände, die die ältere Marke und das angegriffene Geschmacksmuster darstellen, und in diesem Zusammenhang hervorgehoben, dass mangels eines entsprechenden konkreten Hinweises im Rahmen der Verordnung Nr. 6/2002 nicht angenommen werden könne, dass der Unionsgesetzgeber die Beurteilung von Geschmacksmustern auf einen direkten Vergleich habe beschränken wollen (vgl. Urteile PepsiCo/Grupo Promer Mon Graphic, EU:C:2011:679, Rn. 55 und 57, sowie Neuman u. a./José Manuel Baena Grupo, EU:C:2012:641, Rn. 54 und 56).

Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass sich der Gerichtshof, auch wenn er die Möglichkeit eines indirekten Vergleichs der angegriffenen Geschmacksmuster zugelassen hat, in der Folge auf die Feststellung beschränkt hat, dass das Gericht der Europäischen Union seine Argumentation auf die unvollkommene Erinnerung an den von diesen Geschmacksmustern hervorgerufenen Gesamteindruck habe stützen können, ohne einen Rechtsfehler zu begehen (vgl. Urteile PepsiCo/Grupo Promer Mon Graphic, EU:C:2011:679, Rn. 58, sowie Neuman u. a./José Manuel Baena Grupo, EU:C:2012:641, Rn. 57).

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 48 bis 50 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bezieht sich ein solcher indirekter, auf eine ungenaue Erinnerung gestützter Vergleich aber nicht auf eine Erinnerung an einzelne Elemente von mehreren Geschmacksmustern, sondern auf eine Erinnerung an bestimmte Geschmacksmuster.

Die vorstehenden Erwägungen können durch die von Dunnes vorgetragenen Argumente nicht entkräftet werden.

Soweit es sich zum einen um Argumente handelt, die auf die Erwägungsgründe 14 und 19 der Verordnung Nr. 6/2002 gestützt sind, in denen die Ausdrücke „vorbestehender Formschatz“ und „im Vergleich zu anderen Geschmacksmustern“ verwendet werden, so ist darauf hinzuweisen, dass die Begründungserwägungen eines Gemeinschaftsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich sind und weder herangezogen werden können, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht (Urteil Deutsches Milch-Kontor, C‑136/04, EU:C:2005:716, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Jedenfalls wird, auch wenn der 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 6/2002 sich auf den Eindruck bezieht, den ein „vorbestehender Formschatz“ bei einem informierten Benutzer hervorruft, dieser Begriff in keiner Vorschrift dieser Verordnung erwähnt.

Im Übrigen bedeuten weder die Verwendung dieser Begriffe, noch die des Ausdrucks „im Vergleich zu anderen Geschmacksmustern“ im 19. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 6/2002, dass derjenige Eindruck im Sinne von Art. 6 dieser Verordnung maßgeblich ist, der nicht durch einzeln benannte ältere Geschmacksmuster, sondern durch eine Kombination isolierter Elemente von solchen Geschmacksmustern hervorgerufen wird.

Was zum anderen die Bezugnahme auf „Kombinationen bekannter Merkmale von Mustern oder Modellen“ im zweiten Satz von Art. 25 Abs. 1 des TRIPS-Übereinkommens angeht, so genügt die Feststellung, dass diese Vorschrift ihrem Wortlaut nach fakultativ ist und die Parteien dieses Übereinkommens daher nicht vorsehen müssen, dass die Neuheit oder Eigenart eines Geschmacksmusters in Bezug auf derartige Kombinationen beurteilt wird.

Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass für die Bejahung der Eigenart eines Geschmacksmusters sich der Gesamteindruck, den dieses beim informierten Benutzer hervorruft, nicht von dem Gesamteindruck, den eine Kombination isolierter Elemente von mehreren älteren Geschmacksmustern hervorruft, sondern von dem Gesamteindruck, den ein oder mehrere ältere Geschmacksmuster für sich genommen hervorrufen, unterscheiden muss.

Zur zweiten Frage

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 85 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass der Inhaber eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters zum Nachweis verpflichtet ist, dass dieses Eigenart nach Art. 6 dieser Verordnung besitzt, oder dass er lediglich angeben muss, inwiefern dieses Geschmacksmuster Eigenart aufweist, damit ein Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht es als rechtsgültig ansieht.

Nach dem Wortlaut von Art. 85 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 obliegt dem Inhaber eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters einerseits, den Beweis für das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 11 dieser Verordnung zu erbringen, und andererseits, anzugeben, inwiefern sein Geschmacksmuster Eigenart aufweist, damit ein nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster als rechtsgültig angesehen wird.

Nach Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 wird ein Geschmacksmuster, das die in Abschnitt 1 dieser Verordnung genannten Voraussetzungen erfüllt, als nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster für einen Zeitraum von drei Jahren geschützt, beginnend mit dem Tag, an dem es der Öffentlichkeit innerhalb der Europäischen Union erstmals zugänglich gemacht wurde.

Wie schon die Überschrift von Art. 85 der Verordnung Nr. 6/2002 zeigt, enthält dieser in seinem Abs. 1 eine Vermutung der Rechtsgültigkeit eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster und in seinem Abs. 2 eine Vermutung der Rechtsgültigkeit nicht eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster.

Die Anwendung dieser Vermutung der Rechtsgültigkeit ist allerdings naturgemäß unvereinbar mit der von Dunnes vorgenommenen Auslegung von Art. 85 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002, wonach der Beweis, den der Inhaber eines Geschmacksmusters nach dieser Vorschrift erbringen muss, nämlich dass die in Art. 11 genannten Voraussetzungen erfüllt sind, auch den Beweis einschließt, dass das betreffende Geschmacksmuster auch allen in Titel II Abschnitt 1 dieser Verordnung aufgeführten Bedingungen genügt, d. h. den Art. 3 bis 9 dieser Verordnung.

Auch würde die von Dunnes vorgeschlagene Auslegung des Art. 85 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 in Verbindung mit Art. 11 dieser Verordnung die zweite in Art. 85 Abs. 2 vorgesehene Bedingung, dass der Inhaber eines Geschmacksmusters anzugeben hat, inwiefern dieses Geschmacksmuster Eigenart aufweist, ihres Sinnes und ihres Gehalts entleeren.

Im Übrigen wäre diese Auslegung nicht mit dem Ziel der Einfachheit und Schnelligkeit vereinbar, das – wie aus den Erwägungsgründen 16 und 17 der Verordnung Nr. 6/2002 hervorgeht – den Schutz eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters rechtfertigt.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Differenzierung in Art. 85 der Verordnung Nr. 6/2002 zwischen den Verfahren, die ein eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster betreffen, und denen, die ein nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster betreffen, aus der Notwendigkeit folgt, für die letztgenannte Kategorie den Zeitpunkt, ab dem das Geschmacksmuster durch diese Verordnung geschützt ist, sowie den genauen Inhalt dieses Schutzes zu bestimmen. In Ermangelung von Eintragungsformalitäten lassen sich diese Elemente bei einem nicht eingetragenen Geschmacksmuster schwieriger feststellen als bei einem eingetragenen Geschmacksmuster.

Im Übrigen wäre die Möglichkeit des Beklagten nach Art. 85 Abs. 2 Satz 2, die Rechtsgültigkeit dieses Geschmacksmusters mit einer Widerklage auf Erklärung der Nichtigkeit in Frage zu stellen, größtenteils sinnlos und inhaltsleer, wenn Art. 85 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin ausgelegt werden müsste, dass ein nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster nur dann als rechtsgültig angesehen werden kann, wenn sein Inhaber nachweist, dass es allen in Abschnitt 1 des Titels II aufgeführten Bedingungen dieser Verordnung genügt.

Hinsichtlich der zweiten in Art. 85 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 genannten Bedingung genügt der Hinweis, dass der Wortlaut dieser Bestimmung, wonach vom Inhaber des nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters nur verlangt wird, dass er angibt, inwiefern dieses Eigenart aufweist, eindeutig ist und nicht dahin interpretiert werden kann, dass er eine Verpflichtung einschließt, zu beweisen, dass das betreffende Geschmacksmuster Eigenart hat.

Wenn es nämlich in Ermangelung von Eintragungsformalitäten für diese Kategorie von Geschmacksmustern notwendig ist, dass der Inhaber des in Rede stehenden Geschmacksmusters den Gegenstand genau bezeichnet, für den er nach der genannten Verordnung Schutz fordert, genügt es somit, dass er das oder die Elemente seines Geschmacksmusters benennt, die ihm Eigenart verleihen.

Unter diesen Umständen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 85 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass der Inhaber dieses Geschmacksmusters nicht zum Nachweis verpflichtet ist, dass dieses Eigenart nach Art. 6 dieser Verordnung besitzt, sondern lediglich angeben muss, inwiefern dieses Geschmacksmuster Eigenart aufweist, d. h. dass er das oder die Elemente seines Geschmacksmusters benennen muss, die ihm Eigenart verleihen, damit ein Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht es als rechtsgültig ansieht.

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 6 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster ist dahin auszulegen, dass für die Bejahung der Eigenart eines Geschmacksmusters sich der Gesamteindruck, den dieses beim informierten Benutzer hervorruft, nicht von dem Gesamteindruck, den eine Kombination isolierter Elemente von mehreren älteren Geschmacksmustern hervorruft, sondern von dem Gesamteindruck, den ein oder mehrere ältere Geschmacksmuster für sich genommen hervorrufen, unterscheiden muss.

2.      Art. 85 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 ist dahin auszulegen, dass der Inhaber dieses Geschmacksmusters nicht zum Nachweis verpflichtet ist, dass dieses Eigenart nach Art. 6 dieser Verordnung besitzt, sondern lediglich angeben muss, inwiefern dieses Geschmacksmuster Eigenart aufweist, d. h. dass er das oder die Elemente seines Geschmacksmusters benennen muss, die ihm Eigenart verleihen, damit ein Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht es als rechtsgültig ansieht.

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